Hans-Joachim Löwer beschreibt und bebildert 100 besondere Gipfelkreuze in den Alpen, 18 aus der Schweiz.
„Sie steigen von oben in die steile Rinne, die sich vom Gipfel nach unten zieht. 10, 15 oder 20 Meter tiefer finden sie, was sie suchen. Zwei schlanke, längliche Felsbrocken, die an ihren Enden spitz auslaufen – genau das, was sie brauchen. Sie zerren sie mit bloβen Händen nach oben. Den einen Brocken stecken sie senkrecht in das Steinmanndli und klemmen ihn fest. Den anderen Brocken binden sie waagrecht mit einer Reepschnur daran, die sie im Rucksack dabeihaben. Und fertig ist das Kreuz.“
Das Gipfelkreuz auf dem Bristen (3073 m), dem Wahrzeichen des Urnerlandes. Spontan erbaut im Sommer 2001 von Wildhüter Alois Herger und seinen Gefährten. 2006 hätte es durch ein Kreuz von neun Metern Höhe und fünf Metern Breite ersetzt werden sollen – die Stiftung Landschaftsschutz war dagegen. Auch gegen eine kleinere Variante. 2009 zersplitterte ein Blitz das Kreuz. Seither steht ein ebenso steinerner Nachfolger dort oben. Aber nicht alle Kreuze, welche auf den Gipfeln der Alpen in den letzten 220 Jahren errichtet wurden, sind so schlicht und natürlich.
Wofür steht das Gipfelkreuz überhaupt? Setzt es (noch immer) ein religiöses Zeichen? Zementiert es einen Glauben? Spricht es einen Dank aus? Erinnert es an einen in den Bergen Verunglückten? Trägt es bloss den Gipfelbuchbehälter? Wehrt es das Unwetter ab? Sühnt es eine Tat? Markiert es eine Grenze? Definiert es den Kulminationspunkt? Dient es als Beweis, dass man oben gewesen ist, wenn man die entsprechende Foto zurück ins Tal bringt – ja schon von oben verschickt? Hat es vorab einen touristischen Zweck? Ist es ein Wäscheständer, um die verschwitzen Kleider zu trocknen? Wollen sich Einzelpersonen und Firmen verewigen? Ist es eine verkappte Liftfasssäule? Oder nur ein halb kaputtes Triangulationssignal? Ist es schlicht schön? Oder stört es als religiöses Symbol des Todes und der Macht? Darf und kann es noch Gipfel ohne menschliche Spuren geben? Gehört das Kreuz nicht einfach auf einen Gipfel?
In einem dicken Bildband stellt der Reporter und Buchautor Hans-Joachim Löwer 100 faszinierende Gipfelkreuze aus den Alpen Österreichs (41), Italiens (34, davon 19 im Südtirol), der Schweiz (17) und Deutschlands (6) vor; zwei Kreuze stehen auf der Grenze von Österreich zu Italien (Weisskugel) bzw. zur Schweiz (Piz Buin). Gegliedert ist das Buch in folgende Kapitel – in Klammern jeweils, welches CH-Gipfelkreuz dabei ist: Kraftakte (Bristen); Bastionen (Sassariente, Les Millets, Kaiseregg); Konfrontationen (Piz Buin); Naturgewalten (Rophaien); Tragödien (Schwarzmönch, Böshorn); Gedenken; Gedanken (Tguma, Stecknadelhorn); Gelübde; Traditionen (Augstbordhorn); Talente (Wasserbergfirst, Bietenhorn); Freundschaften (Dent de Savigny, Vanil de l’Ecri, Mändli); Frustrationen; Provokationen (Vanil Noir, Freiheit); Signale.
An die 100 Gipfelkreuze nagelt Löwer spannende, überraschende, bedenkliche, tragische und auch fröhliche Geschichten von gestern und heute, immer illustriert durch sorgfältig ausgewählte Fotos. Zudem gibt er kurz die üblichen Zustiegswege an, mit Zeitangaben und Schwierigkeiten. Ob es die 100 faszinierendsten Kreuze und Geschichten sind, bleibe dahingestellt, da Gipfelkreuze aus den Alpenländern Frankreich, Liechtenstein und Slowenien fehlen. Das Kreuz auf dem Matterhorn, von dem es gar einen grossen Bildband und eine fesselnde Novelle gibt, fehlt eigentlich auch. Und noch zwei kleine Korrekturen: Das gemauerte Kreuz auf dem Mändli zwischen Lungern und Sörenberg steht nicht auf dem Nord- (2059 m), sondern auf dem Südgipfel (2055 m) – dorthin gehen auch die meisten Besteiger, insbesondere im Winter. Auch bei Les Millets ist eine falsche Höhe angegeben: Nicht auf dem Hauptgipfel (1885 m) erhebt sich das Kreuz, sondern auf dem vorgelagerten Westgipfel (1858 m). Damit es vom Tal aus besser sichtbar ist. Und genau darum ging es, als es 1943 bei einem Anlass der katholisch-stockkonservativen Volksmission in Lessoc gezimmert wurde. An einem regnerischen Maisonntag im Jahre 1944 wurde es dann oben aufgestellt, während in der Kirche unten Vikar Auguste Carrel predigte: „Das Kreuz, das auf unseren Bergen aufragt, ist ein Zeichen für das Kreuz, das wir in den Tiefen unserer Herzen befestigen.“ Der Wettergott kümmerte sich nicht um solche Glaubenssätze und zerstörte 1977 das Kreuz aus Holz auf dem Millets-Westgipfel. Seither wacht eines aus Metall, fest verankert in einem Betonsockel, über die Haute Gruyère. Auf der Südseite des Sockels wurde vor einigen Jahren gar eine Bank angeschraubt, ein Behälter fürs Gipfelbuch ist am Stamm angebracht. Braucht es mehr im Leben als einen sonnig-göttlichen Picknickplatz, an dem man erst noch seinen Namen hinterlassen kann?
Hans-Joachim Löwer: Gipfelkreuze – Träume, Triumphe, Tragödien. Athesia Verlag, Bozen 2019, Fr. 41.50. www.hajoloewer.de/bücher