Glückskinder

Glückskinder nennt man jene, die günstige Umstände auf ihre Seite nehmen. Diesmal waren wir mittendrin: Wir angelten uns die drei schönsten Bergtage dieses Sommers. Und nicht nur das. © Annette Frommherz Engadin Veltlin 08 2014 (16)

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Die Gunst des Schicksals nutzen, dachte ich, und blinzelte in die Sonne. Vor drei Tagen waren wir bei kühlem Nieselregen in Pontresina gestartet und durchs Val Roseg hinauf in die Tschiervahütte gewandert. Tags darauf hatten wir bei herrlichem Sonnenschein den Piz Morteratsch bestiegen.
Über die Fuorcla Boval waren wir zur Bovalhütte hinabgestiegen, wo wir nach einer gewittrigen Nacht in aller Herrgottsfrühe entlang der Moräne liefen und den Morteratschgletscher querten, hinüber zur Isla Pers und entlang der Gemsfreiheit zur Fortezza hinauf. Ein felsiger Grat empfing uns mit einer Kletterei bis zur Bellavistaterrasse, wo wir die Steigeisen wieder montierten und am langen Seil über den weich gewordenen Schnee zur Marco e Rosa Hütte liefen. Knietief sanken wir bei jedem zweiten Schritt ein. Ich sah die Hütte von weitem, aber die Streichholzschachtel wollte und wollte nicht näher kommen. Das Leben eines Hüttenwarts muss trist sein, ging es mir später durch den Kopf, als ich nach einem erschöpften Nachmittagsschläfchen den Wandschmuck mit den nackten Frauen begutachtete. Entweder muss der Mann hier oben Holz hacken gehen oder ein deftiges Menü kochen. Unser Italiener wählte die zweite Variante und servierte im Einweggeschirr ein herzhaftes Menü, wie es sich in Italien gehört.

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Nun also, dachte ich, als wir anderntags den gleichen Weg auf hart gefrorenem Schnee zurücklegten, nun also wollen wir auf den Piz Palü. Das Wetter liess keine Ausrede zu. Die abendlichen Wolken hatten sich in Luft aufgelöst, helles Sonnenlicht fiel glänzend auf die Schneehänge, und die morgendlichen trägen Schatten liessen unsere Gedanken gemächlich fliessen.
Die Gunst des Schicksals musste genutzt werden. Ich freute mich auf unser Vorhaben, aber die ausgesetzte Felskletterei auf den westlichen Gipfel, den Piz Spinas, war mir mit meiner Höhenangst nicht geheuer. Mit meinem Liebsten hatte ich mich auf die Umgehung dieses Gipfels geeinigt, indem wir von der italienischen Seite her die steile Nordflanke besteigen und somit zwischen dem Piz Spinas und dem Hauptgipfel auf den Grat gelangen würden. Keine einzige Spur war im harten Schnee zu erkennen, wie wir gegen die Flanke zuliefen. Es war mir, als wären wir die ersten, die hier durchkämen. Die Stille, die uns umgab und die einem manchmal tief im Herzen sitzt, fühlte sich mit einem Male bedrohlich an. Vor uns im Schatten lag diese schroffe, eisige Wand. Mein Pendant ging voran. Beide stemmten wir unsere Steigeisen in den harten Untergrund, suchten nach festem Halt und schlugen die Pickel ein. Der Rucksack lag mir schwer am Rücken und schien mich nach hinten in die Tiefe zu ziehen. Die Gunst des Schicksals nutzen, dachte ich dort in der Wand, nutze die Gunst des Schicksals; es ist dir wohl gesinnt. Ich schnaufte schwer. Vielleicht war es die Höhe, wahrscheinlich war es die Angst. Bis ich oben ankam, starb ich hundert Tode. Der schmale Grat, der mich erwartete, war die Zugabe, war die nächste Prüfung, die mir auflauerte. Weshalb tust du das, fragte ich mich, aber die Antwort wich dem konzentrierten Vorwärtslaufen. Da, wo der Grat sich auflöste für einen lauschigen Platz auf dem Hauptgipfel, da konnte ich endlich meinen Puls beruhigen. Das musste sein, denn vom Hauptgipfel bis zum Ostgipfel führt ein noch schmalerer Firngrat, der mir abermals die volle Konzentration abverlangte. Langsam, Schritt für Schritt, fokussierte ich meinen Blick auf die Fussspuren vor mir. Als ich den Grat endlich hinter mir lassen konnte, glaubte ich meinen Bruder zu spüren, wie er mir zuwinkte, vom Himmel herab, wo er schon lange wohnt. Um uns war eine Weite und war warmes Sonnenlicht, das uns umschmeichelte. Mein Liebster gab mir mehr als nur einen Gipfelkuss. Es waren immerhin drei Gipfel und er erleichtert. Und erst jetzt konnte ich mir meine Frage beantworten. Weshalb ich das tue? Glückskinder, dachte ich nur, wir sind Glückskinder.

5 Gedanken zu „Glückskinder

  1. wiederum: schöner Text, liebe Annette, vielen Dank! … und manchmal sitzt die Stille schwer im Herzen … und das Denken weicht der Konzentration. Das ist Leben pur!

  2. Hallo Annette Gratuliere das sind unvergessliche Momente.Muss schon sagen, du hast ja riesen Schritte gemacht vor ca. 7 Jahren musste wir noch auf den Churfirsten einen Rückzug machen, da der Grat zu ausgesetzt war und jetzt das!!!!An die Hüttenfotos kann ich mich gut erinnern die hingen schon vor xx Jahren, als Stefan und ich uns nach der Besteigung des Piz Bernina von der Tschiervahütte aus, mit einer kräftigen Minestrone verwöhnen liessen. Der Grat vom Hauptgipfel auf den Ostgipfel ist wirklich sehr ausgesetzt und oben angekommen ist noch nicht wieder unten das fordert nochmals volle Konzentration und nicht stolpern. Waren dieses Jahr auch oben aber mit den Tourenski ein wirklich tolles Erlebnis und nochmals GRAtuATION.

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