Wieder mal an der Falesia del Silenzio, der Klippe des Schweigens, der Poesie, der Träume.
Manchmal glaube ich zu träumen. Diesen Pfad über den Felsrücken von Orco zur Falesia del Silenzio, durch Gebüsch, das sich manchmal lichtet, den Blick frei gibt ins Val Cornei, wie oft bin ich ihn schon gegangen? Zwanzigmal in zwanzig Jahren oder mehr? Hundertmal im Kopf, während ich an dem Buch schrieb, das den schlichten Titel «Finale» trägt. Hier beginnt es, hier begann es, hier schritten sie dahin, die Bergführerin und der Alte, mein Alter Ego vielleicht. Und nun sind wir also hier, und der Wind streicht vom Meer her, lichtes Gewölk am Himmel, Stille. Ja, Stille. Falesia del Silenzio – vielleicht ist es allein dieser traumhafte Name, der uns immer wieder zieht. Hierher, über diese Kalkfelsen schreiten, die Abzweigung mit dem kleinen Steinmann nicht verpassen, dann hinab, trockenes Laub unter den Füssen, eine Stufe, dann die Wandstufe mit den Eisenklammern. Ja, sie sind noch da, auch die verwaschenen Seile, alles ist noch da. Wir sind da. Traum oder Wirklichkeit? Irgendwann kann man das wohl nicht mehr unterscheiden.
Gestern, in der Bar Centrale, hat mich ein Herr angesprochen, deutsch. Hat das Buch schon gelesen, begeistert, ich verstand die Welt nicht mehr. Er ist verwandt mit der Familie Grosso, die die Bar führt, Renata, die Mutter, Stefania, die Tochter, auch schon Mutter von zwei Kindern. Wir kamen schon her, als sie noch ein Mädchen war, gertenschlank mit dichtem schwarzem Haar hinter der Bar. Sie spricht Deutsch, wie die ganze Familie, und das Buch hat ihnen schon jemand gebracht, ich gebe dann noch eines ab, mit Widmung, und wir bekommen zwei Cappuccini und Gioccolattini. So eilt einem das Geschriebene voraus, nimmt ungeahnte Wege. Bis Finale. Und jetzt sind wir hier und seilen uns an: Falesia del Silenzio.
Es ist schon heiss, als ich Golden Lady versuche, versuche und durchziehe, fast locker. Der Name hat schon einen Klang, dem man sich nicht entziehen kann, und die Route, ein Traum, Tagtraum. Links eines schwarzen und eines gelben Streifens zieht sie hoch, Sintergriffe und grosse Löcher, manchmal auch kleinere, scharfkantige, ein oder zwei Finger passen hinein oder auch mal der ganze Arm, zum Rasten. Ein kurzer Riss und nochmals hinaus, auf eine kleingriffige Platte und zur Umlenkung. Geschafft, geschafft. Es war heiss und anstrengend, und ich bin glücklich.
Es müssen Poeten gewesen sein, die die Routen an der Falesia del Silenzio eingerichtet haben: Il Ritorno dalla Polvere, La Notte delle Gomme bucate, il Silenzio parla, Viaggio nella Conoscenza, l’Urlo della Farfalla, Riti magici al Tramonto. Die Erstbegeher haben wohl Hesse gelesen, denn da gibt es auch eine Siddharta, eine der Kultrouten im total überhängenden gelben Wandteil. Die meisten stammen aus der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, ja, damals hatte Klettern noch etwas Wildes, es gab noch keine Trainingshallen, keine Wettkämpfe, keine Sponsoren. Die Freak hockten auch mal in einer Höhle am Feuer, hörten Bob Dylan oder Francesco Guccini und drehten sich einen Joint.
Ich weiss, das ist die Sicht des alten Träumers, drum klebe ich den Verschluss meiner Kletterfinken zu, packe nochmals an, Fjodor heisst die Route schlicht, ist einige Jahre jünger als die meisten andern, die sind Griffe gut, aber die Wand hängt ziemlich über. Geschafft, nun können wir aufbrechen, zum Cappuccino, zum Bier, zum Spaziergang am Meer, zur Pasta und dem Wein, zum letzten Abend in Finale.