Vor hundert Jahren flatterte auf dem höchsten Punkt des Grönlandeises die Berner Fahne. Was wieder einmal beweist, wer die Schnellsten im Land sind. Zwei neue Bücher rufen die zweite Durchquerung Grönlands durch den bei Thun geborenen Alfred de Quervain und Begleiter in Erinnerung. Dazu die legendäre Erstbesteigung des Mount Asgard auf Baffin Island.
„Heute morgen klärt es ein wenig auf. Da das Barometer während des letzten Tagesmarsches mehr stieg als plausibel, sind wir gespannt auf die Horizontalaufnahme. Fick ist gerade daran.
Eben ruft er ins Zelt: Nach vorn Sinken, um acht Bogenminuten. Ich muss hinaus –
Später. – Ja wahrhaftig. Es stimmte! Wir haben endlich den höchsten Punkt dieser Riesenwölbung überschritten.
Daraufhin nehme ich zum erstenmal seit Mercantons und Josts Abschied die seidene Schweizerfahne und die Bernerfahne hervor, und wir hissen sie an der grossen Sondierstange. Dieser Platz soll ‚Abwärts‘ heissen. So war also die grösste Höhe des Inlandeises hier so weit nach Osten gerückt, dass wir sie erst nach zwei Dritteln des Weges erreichten. Das hatte man nicht erwartet!“
So zitiert Stephan Orth, der Enkel des Höhenvermessers Roderich Fick, in seinem Buch „Opas Eisberg. Auf Spurensuche durch Grönland“ Alfred de Quervains Tagebucheintrag vom 13. Juli 1912. Endlich hatten die vier Männer, nämlich der in Uebeschi bei Thun geborene Geophysiker und Meteorologe Alfred de Quervain (1879-1927) als Leiter sowie der deutsche Architekt Roderich Fick (1886-1955), der deutsche Ingenieur Karl Gaule (1888-1922) und der St. Moritzer Arzt Hans Hössli (1883-1918), ihren „Gipfel“ des grönländischen Inlandeises erreicht, das sie im Sommer 1912 während vier Wochen auf einer Strecke von 650 Kilometern von West nach Ost überquerten. Vom Zeltplatz Nr. 21 auf 2510 Meter über dem Nordmeer ging es nur noch abwärts bis zur Ostküste, die sie am Morgen des 21. Juli überblickten. Bis sie dann den Ort Angmagsalik erreichten, dauerte es weitere zehn Tage. Damit war zum zweiten Male nach 1888 der grönländische Eisschild, die zweitgrösste permanent vereiste Fläche der Erde, erfolgreich überquert worden. Als einer der ersten modernen Abenteurer war der englische Matterhorn-Bezwinger Edward Whymper 1867 von Westen aufs Inlandeis gestiegen; allerdings kam er nur ein paar Kilometer weit.
Auch Ficks Enkel Stephan Orth schaffte keine Durchquerung der weissen Wüste. Immerhin drang er von Osten so weit auf der Route seines Opas vor, dass er mehr als einen Hauch davon spürte, welche körperlichen und mentalen Strapazen die Pioniere vor 100 Jahren bewältigen und erdulden mussten. Und als Redaktor im Reiseressort bei Spiegel Online weiss er auch anschaulich von den Expeditionen zu berichten. Ein Buch, das alte und neue Berichte bunt mischt und das sich flott liest, am besten natürlich auf der Terrasse (oder auch in der Stube) der Wirtschaft Degenried am Adlisberg ob Zürich, ein paar Schritte neben der Eidgenössischen Erdbebenwarte, welche de Quervain von 1913 bis 1926 leitete.
Eine weitere Publikation widmet sich ebenfalls Alfred de Quervain, der schweizerischen Grönland-Expedition von 1912 sowie weiteren Erforschungen des Inlandeises. Stefan Kern vom Polararchiv Schweiz hat sie verfasst; ein guter, schön bebildeter Überblick, der gut in jedem Rucksack Platz hat, auch wenn man höhere Hügel als den Adlisberg (701 m) anpeilt. Und: Es lohnt sich ein Blick in dieses Polararchiv. Jüngst zu lesen: der Bericht über die Erstbesteigung des Mount Asgard (2011) auf Baffin Island vor 60 Jahren im Rahmen der Expedition des Arctic Institute of North America und der Schweizerischen Stiftung für Alpine Forschung. Am 13. Juli 1953 standen die Schweizer Jürg Marmet, Hans Röthlisberger, Hans Weber und Fritz Hans Schwarzenbach auf dem stolzen Gipfel.
Wilde Touren im hohen Norden. In „Ski“, dem Jahrbuch des Schweizerischen Ski-Verbandes von 1913, berichtete Hans Hössli über „Polarexpeditionen und ihre Ausrüstung“, wobei er stark Bezug auf die Grönland-Expedition von Fridtjof Nansen und seine fünf Begleiter nimmt, die vor genau 125 Jahren, vom 15. August bis zum 26. September 1888, mit Hilfe von Ski Südgrönland auf einer Strecke von 450 Kilometern traversierten. Am Schluss seines 20seitigen Empfehlungstextes kommt Hössli auf die Genussmittel während einer Polarreise zu sprechen: „Gar nicht missen aber möchte ich den Tabak, ist er doch in langweiligen Stunden unser gemütlichster Unterhalter, und wissen auch Nichtraucher, dass dort, wo die Pfeife brennt, auch ein guter Humor zuhause ist.“
Stephan Orth: Opas Eisberg. Auf Spurensuche durch Grönland. Malik Verlag, München 2013, Fr. 28.90.
Stefan Kern: Alfred de Quervain. Erforscher physikalischer Extreme und Überquerer des grönländischen Inlandeises. Erhältlich bei http://polararchiv.blogspot.ch.