Vier besondere Bücher von und zu besonderen Bergsteigern. Drei von ihnen starben in den Bergen.
«‹Andrej, nimm meine Flasche! Du kletterst mit Sauerstoff voraus und ich ohne hinter dir!›
Doch Andrej nimmt mein Angebot nicht an. Er weiß, dass ich dann höchstwahrscheinlich, wenn überhaupt, nur mit heftigen Folgeschäden vom Berg runterkomme und mein Lebtag ein Krüppel bleibe. Bei vierzig Grad minus und einer Windgeschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde hält dein Körper es in der Todeszone nicht lange aus. In Gedanken sehe ich schon vor mir, wie Andrej umkehrt und ich allein weiterstapfe. Ins Ungewisse. Doch eines ist klar: Der Weg nachhause führt nur über den Gipfel! Wir haben in den letzten Wochen einfach zu viel durchgemacht, um dem Gipfel jetzt, so kurz vorm Ziel, den Rücken zuzukehren. Und zuhause warten Menschen, die mich lieben und mir vertrauen, die mich respektieren, viel mehr als ich mich selbst respektiere. Auch für sie bin ich bereit, bis zum Ende zu gehen. Noch gebe ich nicht auf.»
Ausschnitt aus einem Bergbuch, das in Slowenien alle kennen, die in die Berge gehen. Und wer ist in diesem Alpenstaat schon kein Bergsteiger, keine Bergsteigerin? Nicht zufällig ziert ja der Triglav, der höchste Gipfel des Landes, die slowenische Flagge. „Pot“ heisst dieses Buch, verfasst von Nejc Zaplotnik. Am 13. Mai 1979 steht er zusammen mit Andrej Štremfelj auf dem Gipfel des Mount Everest. Dies war zuvor noch keinen Alpinisten aus dem ehemaligen Jugoslawien gelungen. Die beiden Slowenen waren auch die Ersten, die den gesamten Westgrat des Everest begangen haben. 1981 erscheint Zaplotniks Buch, das zu einem Kultbuch wird (zehn Nachdrucke bis 2020). Nun ist die alpine Bibel Sloweniens auf Deutsch erschienen: „Der Weg“.
Ob der Weg über den Gipfel führen muss oder nicht: Das müssen wir selbst entscheiden. Wie sich Nejc entschieden hat, und warum, und was passieren kann: Das lesen wir in seinem Buch. Ein grossartiges, tiefschürfendes, vielschichtiges Werk. Wir erleben, was einen Vollblut-Alpinisten im Innersten antreibt. Dabei erschöpft sich „Der Weg“ nicht in der blossen Nacherzählung von Besteigungen, sondern liest sich streckenweise wie ein Ratgeber für eine möglichst erfüllte und authentische Lebensweise. Bereits in seiner Kindheit und Jugend entdeckte Nejc Zaplotnik seine Liebe zu den Bergen, die sich im Laufe der Jahre zu einer wahren Berg(sehn)sucht entwickelte. Als ihm die umliegenden heimischen Berge nicht mehr genügten, wählte er immer extremere Routen und immer höhere Gipfel im In- und Ausland als Ziel. Die Möglichkeit, seinem Wunsch nach einem freien Leben möglichst nahe zu kommen, sah er nur im Bergsteigen, dem er alles andere unterordnete. Am 24. April 1983, acht Tage nach seinem 31. Geburtstag, stirbt Nejc Zaplotnik in einer Lawine am Manaslu.
«In den frühen 1970er Jahren entwickelte Kurt Albert die Rotpunkt-Kletterei: Mit einem roten Punkt markierte er Routen, bei denen künstliche Hilfsmittel wie Haken, Bohrhaken oder Friends ausschliesslich zur Sicherung – und nicht zur Fortbewegung – verwendet worden waren. Indem Kurt Albert das Klettern auf das Wesentliche reduzierte, wurde er ein Pionier des modernen Felskletterns.»
Ausschnitt aus der Würdigung der King Albert I Memorial Foundation für den deutschen Kletterer und Alpinisten Kurt Albert, als er 2008 den goldenen Albert Mountain Award erhielt. Jetzt ist seine lang erwartete Biografie erschienen: „Kurt Albert. Frei denken – frei klettern – frei sein“. Basierend auf dem bislang nicht zugänglichen privaten Text- und Bildarchiv von Albert sowie auf Gesprächen mit Weggefährten und Zeitzeugen, verfasste Tom Dauer das lesenswerte Buch über einen ganz grossen und geistreichen Bergsteiger. Denn auch wenn schwierigstes Klettern und abenteuerliche Expeditionen in zahlreiche Gebirge der Welt seinen Weg bestimmten, so ging Kurt Albert oft noch ein Stück weiter – wie mit dem roten Punkt, mit Fotos und Artikeln, mit Vorträgen, ja mit seinem ganzen Lebensstil. Er plante, nach „Fight Gravity“, dem Buch über das Klettern im Frankenjura, eine Autobiografie zu verfassen. Jemand anderes hat dieses Werk schreiben müssen. Kurt Albert stirbt, 56 Jahre alt, am 28. September 2010, zwei Tage nach einem Sturz an der Via ferrata Höhenglück im Frankenjura, seinen heimatlichen Felsen.
«Schon als Kind bin ich von den Bergbüchern meiner Eltern begeistert. Es sind Bücher über Nepal, das Land, aus dem mein Vater Rinzi kommt, in denen Berge abgebildet werden, deren Namen ich nicht aussprechen kann, die mich aber trotzdem faszinierten. Ich schaue mir die Wände an, wie sie hochziehen, und stelle mir vor, wie es wäre, sie zu durchsteigen. Schon damals sehe ich in der Struktur jedes Berges das, was Bergsteiger eine Linie nennen: den logischen Weg von unten hinauf auf den Gipfel.»
Ausschnitt aus dem zweiten Buch von David Lama: „Free. Der Cerro Torre, das Unmögliche und Ich“. Zusammen mit Lamas Erstling „High. Genial unterwegs an Berg und Fels“ ist es neu aufgelegt worden, ergänzt um ausgewählte Texte wie „Das Risiko und die Frage, wofür es sich lohnt, Gefahren einzugehen“. Das neue Buch heisst „David Lama. Sein Leben für die Berge. Von ihm selbst erzählt“. Der 1990 geborene Lama galt als einer der begabtesten Alpinisten des letzten Jahrzehnts. Einer, der seinen eigenen Weg vom siegreichen Wettkampfkletterer bis zum unerschrockenen Expeditionsbergsteiger gegangen ist. Wie bei Nejc und Kurt waren die Berge sein Leben, seine Welt, in der er die meiste Zeit verbrachte. In „High“ beschreibt David seine Herkunft, das Aufwachsen in Tirol, wie er früh zum Klettern kam und wie er von seinen Eltern unermüdlich gefördert wurde. „Free“ erzählt von seinem Projekt, die Kompressor-Route am Cerro Torre in Argentinien frei zu klettern. Beide Bücher und die Texte zeigen David Lama, wie er dachte, wie er handelte und wie er war. Am 16. April 2019 stirbt Lama zusammen mit Hansjörg Auer und Jess Roskelley in einer Lawine nach der Besteigung des Howse Peak im Banff-Nationalpark, Kanada.
«Der biologisch unterforderte Mensch arrangiert sich nun freiwillig, künstlich und absichtlich Notwendigkeiten höherer Art, indem er aus freien Stücken von sich etwas fordert, sich etwas versagt, auf etwas verzichtet. Inmitten des Wohlstands sorgt er für Situationen des Notstands; mitten in einer Überflussgesellschaft beginnt er, sozusagen Inseln der Askese aufzuschütten – und genau darin sehe ich die Funktion, um nicht zu sagen die Mission, des Sports im allgemeinen und des Alpinismus im besonderen: sie sind die moderne, die säkulare Form der Askese.»
Ausschnitt aus einem Vortrag, den Viktor Frankl, österreichischer Neurologe und Psychiater, Begründer der Logotherapie und der Existenzanalyse, im Jahre 1988 bei der Feier „125 Jahre Österreichischer Alpenverein“ hielt. Michael Holzer und Klaus Haselböck sind ihrem berühmten Landsmann buchstäblich und sinnbildlich nachgeklettert, nachzulesen im Buch „Berg und Sinn. Im Nachstieg von Viktor Frankl“. In sieben Kapiteln verknoten die beiden auf faszinierende Weise beliebte Klettergebiete und -wege von Frankl mit seinem Leben und seinem Wirken: Von „der Mizzi-Langer-Wand oder die Trotzmacht des Geistes“ bis „auf die Groβe Zinne oder der letzte Sinn“. Am 2. September 1997 stirbt Viktor Frankl, der vier Konzentrationslager, darunter Auschwitz, überlebt hat, mit 92 Jahren. Er verabschiedet sich mit dem Satz „Die Situation entbehrt jedweder Tragik“.
Nejc Zaplotnik: Der Weg. AS Verlag, Zürich 2020, Fr. 39.80.
Tom Dauer: Kurt Albert. Frei denken – frei klettern – frei sein. Tyrolia Verlag, Innsbruck 2020, Fr. 41.50.
David Lama. Sein Leben für die Berge. Von ihm selbst erzählt. Herausgegeben von Florian Klingler und Christian Seiler. Penguin Verlag, München 2020, Fr. 36.50.
Michael Holzer, Klaus Haselböck: Berg und Sinn. Im Nachstieg von Viktor Frankl. Bergwelten Verlag, Salzburg 2019, Fr. 28.90.