Grosser Aubrig

Zum Ende des Max-Frisch-Jahres auf den Grossen Aubrig, einen Schlüsselberg in seiner Biografie. Kein Matterhorn, sondern ein felsdurchsetzter Grashügel im Wägital, auf dessen Gipfel im Sommer Rinder weiden.

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Der Stausee im Wägital liegt glatt und schwarz, ein abgründiger Spiegel. Wir sind mit dem Postauto gekommen, durch dicken Nebel, der erst im Vordertal auflockerte. Über die Staumauer, dann steil und steinig hoch zwischen Weidezäunen und über Holzplanken mit eingefrästen Jahreszahlen, 2003, 2009, die ältesten schon wieder am Verrotten. Drei Herren mit Wanderstöcken treten zur Seite, wir Wanderstocklosen überholen sie leichtfüssig. Sie bemerken irgendwas von «Alter …». Dann vorbei an Alphütten und wiederum steil hinauf im Zickzack durch trockene Hänge und lichten Wald, noch eine Hütte, ein primitiver Transportlift, ein Pfeil auf einem Stein. Da gehts hoch. Ich denke an Max Frisch, der Ende der Fünfzigerjahre hier hinaufstieg mit seinem Freund und Mentor und Widerpart Werner Coninx, «zwei Männer um fünfzig».
«GROSSER AUBRIG», schreibt er in Grossbuchstaben, «wie früher so oft. Und da ich auf ärztliches Gebot ein halbes Jahr nichts getrunken hatte und täglich eine Stunde gewandert war, fiel mir das Steigen leichter als W. Ich gebe zu, es freute mich, dass er nicht auf mich warten musste. Zum Gipfel war es nicht mehr weit, aber W. wollte nicht mehr.» Ihre Rollen hatten sich verkehrt, früher führte Coninx, lud Frisch regelmässig zu Ferien ins Engadin ein, kaufte ihn Ski, finanzierte ihm das Architekturstudium, behandelte ihn herablassend jovial. Nun war Frisch der weltbekannte, der arrivierte Autor. Coninx «gerade nicht in Form … hatte Schweres durchgemacht». Wo er schlappmachte, können wir nur vermuten. Vielleicht bei der letzten Hütte oder noch tiefer unten. Frisch jedenfalls stieg weiter, bis zum Gipfel, wenn man von einem Gipfel reden kann.
Eine Graskuppe, ein Zaun schützt Mensch und Tier davor, auf der Nordseite in den Abgrund zu stürzen, ein paar Steinbrocken, ein Gipfelkreuz von erlesener Hässlichkeit, wohl von einem lokalen Spengler aus Aluminiumblech zusammengeschweisst. Davor sitzen zwei Männer in den Jahren, einer schreibt einen kleinen Text ins Gipfelbuch. Erklärt uns, dass wir auch gegen Westen absteigen können, über den Grat, zeigt uns die gestrichelte Route auf der Wanderkarte. «Ist aber ruppig», rufen uns die beiden nach. Wir wandern weiter, überqueren Hügel, steigen ab nach Euthal am Sihlsee, wo gleich das Postauto einfährt. Von Stausee zu Stausee hat uns die Wanderung geführt, mit der ich für mich das Max-Frisch-Jahr beschliesse, auf meine Weise und ohne an einer der vielen Veranstaltungen, Ausstellungen, Diskussionsrunden zu seinem 100sten Geburtstag teilgenommen zu haben. Nur einmal das Hörspiel nach seinem Buch «Montauk» gehört, aus dem die Zitate oben stammen. Auf Long Island, während eines Wochenendes mit einer jungen Geliebten, erinnerte sich Max Frisch an den Grossen Aubrig – er muss ihm doch einiges bedeutet haben.

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