Kletterhallen sind Orte, wo man sich trifft, wo man sich findet, wo man die Sehnsucht nach den Bergen für ein paar Stunden vergessen kann.
Es ist die hohe Zeit der Kletterhallen, Hochnebel liegt über der Stadt und kalt ist es. Leichtes Schneetreiben auf der Gasometerbrücke, der Schnee überzieht die Industrielandschaft mit eigenartiger Poesie, das öde Einkaufszentrum an der Ecke, die Tankstelle, die Geleise des Güterbahnhofs, das alte Gaswerk und die der alten Arbeiterhäuser. Ich bin allein, und mit diesem Mich-hat-wiedermal-die-ganze-Welt-im-Stich-gelassen-Gefühl schreite ich auf das Kletterzentrum zu. Man wird ja sehen. Bristol kommt mir in den Sinn, auch da schritt ich so verloren an einem kalten Morgen durch heruntergkommene Vorstadtsiedlungen zur Kletterhalle, dort nicht in einem stillgelegten Gaswerk, sondern in einer stillgelegten Kirche eingerichtet. Freizeitkultur statt schmutzige Industriemaloche oder Gottesdienst, das ist der Trend. In Bristol hat man mich freundlich empfangen, fast wie der Pfarrer ein verlorenes Schaf, die Hallenmanager haben sich um mich bemüht, haben mich gesichert.
Die Kletterhallen haben eine Art soziales Element in den Klettersport eingeführt. Einen Ort, wo man sich trifft, wo man sich findet. Im Londoner The Castle Climbing Centre habe ich einen meiner besten Kletterfreunde kennengelernt; mit Alan habe ich in England unzählige Routen geklettert, und seit er wieder in Boston lebt, fliege ich gelegentlich hinüber und wir klettern in den Gunks und in Rumney. Politik lassen wir aussen vor, er ist ein harter Republikaner.
Aber jetzt ich bin ja im Kletterzentrum Gaswerk in Schlieren, auch da freundlicher Empfang, Freunde sind da, hallo wie geht’s und Küsschen getauscht. Dann klettere ich allein an so einem automatischen Sicherungsgerät, später darf ich dann bei zwei jungen Frauen ein bisschen anhängen. Monika ist die Tochter eines einst grossen Alpinisten, hat für ihren Vater einen schönen Eintrag auf Wikipedia verfasst. Schöne Routen hat er erstbegangen, Klassiker im Granit, die wir oft kletterten, aber auch wildes, brüchiges Gelände. Schön, dass seine Tochter sein Andenken ehrt, wie sich das wohl jeder Vater insgeheim wünscht.
Das Klettern an den Kunstgriffen finde ich nicht wahnsinnig toll, die weiten Züge haben etwas Unnatürliches und das ständige Aufpassen, ob man nun auf die richtige Farbe steht, geht einem alten Kletterer ja auch irgendwie gegen den Strich. Aber jetzt ist es mir draussen zu kalt zum Klettern; früher hätte man unter Entzug gelitten, sich zu einer Skitour durchgebissen oder mit dem Schreiben von Klettergeschichten den Sommer wenigstens geistig zurückgeholt – wie ich. Vielleicht hätte ich ja nie mit Schreiben begonnen, hätte es damals schon Kletterhallen gegeben.
Und dann das Café im Kletterzentrum Schlieren. Jetzt untertags ruhig, gemütlich, Mobiliar aus dem Brockenhaus, Zeitungen liegen da, Klettermagazine. Kaffee, ein Früchtekuchen, der Mensch ist glücklich. Für mich ist es eines der schönsten Cafés in Zürich, nicht verkitscht und nicht verplüscht und kein Kellner, der einen zum Gehen nötigt, kaum ist die Kaffeetasse leer. Nur die Schwedentorte lasse ich schweren Herzens in der Vitrine zurück, ich will ja nicht gleich den ganzen Trainigseffekt wieder kaputt machen.
Noch etwas Klettern, dann breche ich auf, hinaus ins Schneetreiben. Ich bin kein so eifriger Hallenfreak mehr wie damals in England, wo mir die Kletterhallen ein kleines Stück Heimat waren in den grossen Städten, Orte wo ich die besten Freunde fand, wo ich die Sehnsucht nach den Bergen für ein paar Stunden vergessen konnte.