Hast du meine Alpen gesehen?

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„Arthur Schnitzler ist einer der zahlreichen jüdischen Kulturschaffenden, die den Mythos rund um die Alpen und die Sommerfrische kreiert haben. Schnitzler konnte aus eigener Erfahrung schreiben, als einer, der immer wieder nach Reichenau, Edlach oder auf den Semmering hinausfuhr. In seinem Theaterstück ‚Das weite Land‘ geht es um Sommerfrische und Berge, um Affären, Tod der Kontrahenten und unerfüllte, da wieder verworfene Sehnsüchte nach Liebe, Ungelebtes und Erträumtes. Der Fabrikant Friedrich Hofreiter, verheiratet und ständig mit einer Affäre beschäftigt, erklettert mit der viel jüngeren, von ihm verehrten Erna Wahl einen Berge. Es handelt sich um einen Gipfel, auf dem der Fabrikant bereits ein Bergdrama erlebt hatte, das er mit viel Glück überstanden hatte, nicht jedoch sein Freund. Die erneute riskante Besteigung sollte ihm helfen, die Angebetete zu erobern. Die Ambivalenz der Gefühle konzentriert Schnitzler in folgender Szene:
‚ … der Augenblick auf dem Gipfel oben, der Händedruck, dieser Wahn des Zusammengehörens, dieses ungeheure Glücksgefühl, es war wohl alles nur eine Art von Rausch, von – Bergrausch. … Hängt mit den dreitausend Meter Höhe zusammen, mit der dünnen Luft, mit der Gefahr.‘“

Ein Ausschnitt aus dem Kapitel „Ambivalenzen der Faszination: Sommerfrische & Berge“ von Albert Lichtblau. Eines von 40 Kapiteln in einem umfangreichen, umfassenden und so noch nie publizierten Bergbuch, das zugleich der Katalog zu einer ebenso faszinierenden Ausstellung ist: „‘Hast Du meine Alpen gesehen?‘ Eine jüdische Beziehungsgeschichte“. Beides rückt die Bedeutung jüdischer Bergsteiger und Künstler, Tourismuspioniere und Intellektueller, Forscher und Sammler und ihre Rolle bei der Entdeckung und Erschliessung der Alpen als Kultur- und Naturerbe zum ersten Male ins Rampenlicht. Die Wahrnehmung der Berge als Ort geistiger und sinnlicher Erfahrung ist mit der jüdischen Erfahrung und dem Eintritt der Juden in die bürgerliche Gesellschaft Europas auf vielfältige Weise verbunden.

Ausstellung und Buch erzählen mit Text und Bild, mit Briefen, Ausweisen und mit überhaupt ganz aussagekräftig gesammeltem und gezeigtem Material von den Spannungsfeldern des Alpinismus:
– von der Bedeutung der Alpen für die jüdische Diaspora bis zur Wahrnehmung des jüdischen Alpinismus durch die österreichische, deutsche und schweizerische Gesellschaft,
– vom Streit über die Trachten bis zur Arisierung des Alpenvereins und des Österreichischen Skiverbandes,
– vom Widerstreit zwischen einer humanistischen Wahrnehmung alpiner Traditionen und Folklore und einer ins Extrem gesteigerten rassistischen Heimattümelei,
– von der Verwandlung der Berge als Ort spiritueller Erfahrung in einen Schauplatz von Verfolgung und Flucht im Nationalsozialismus.

Da taucht man ein in eine Welt, die man so nicht gekannt hat. Da begegnet man Schriftstellern und Bergsteigern, die man vielleicht kennt, aber nicht um ihre Hintergründe wusste: Paul Preuss zum Beispiel, oder Moritz von Kuffner; sein Grat am Mont Maudit gilt als einer der schönsten der ganzen Alpen. Und, und, und. Ein sehr weites Land.

Die Ausstellung ist in folgenden Museen zu sehen: Jüdisches Museum im vorarlbergischen Hohenems unweit dem schweizerischen Diepoldsau, 26. April bis 15. November 2009; Jüdisches Museum Wien, 15. Dezember 2009 bis 14. März 2010; Alpines Museum München, April 2010 bis Februar 2011. Infos: http://www.jm-hohenems.at/index.php?lang=0&id=3010

Hanno Loewy, Gerhard Milchram (Hg.): Hast du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Bucher Verlag, Hohenems 2009, Fr. 45.-

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