Im Innern der Berge

Wenn es draussen zu warm ist, dann hinein in den Berg oder in den Gletscher. Drei Publikationen erforschen die Welt unter der Oberfläche.

«Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird.»

Ausschnitt aus einem berühmten Text der Weltliteratur, aus dem sogenannten Höhlengleichnis des griechischen Philosophen Platon in seinem Buch „Politeia“, genauer aus dem siebten Kapitel, Buch 106b „Das Hinaufsteigen zum Licht und das Wiederherabkommen in die Höhle“. Aber warum, um Zeus‘ Willen, Platon im Buch der Woche? Ganz einfach: Die Hintergrundtexte im „Reclams Literatur-Kalender 2023“ beginnen mit Platon. Und da ich neben mir drei neue Höhlen-Publikationen liegen habe, dachte ich, dass ich diese so an ans Licht bringen könnte…

«Vor uns ist ein schwarzes Loch, das die Oberfläche des Eises durchbricht. Unter unseren Füssen fliesst ein Fluss, dessen Rieseln in unseren Ohren singt. Wir hängen über der Leere. Als wir den Rand des Gletschers erreichen, gähnt vor uns eine grosse Öffnung. Sie schluckt den Fluss und lässt ihn in der Tiefe eines hellblauen Tunnels verschwinden. Wir klettern den Tunnel hinunter, bis wir zu einem Wasserfall gelangen, der vom Tageslicht erhellt wird, das durch den Schlund eindringt. Er erscheint uns nun in Form eines grossen Fensters, das nach aussen hin geöffnet ist. Der zerfallene Gletscher gibt uns seine geheimen Labyrinthe preis.»

Étienne Mayerat aus Rolle am Lac Léman war von Beruf Gitarrist und teilte die Leidenschaft für den Flamenco mit derjenigen für die Berge, was ihm den Spitznamen „El Niño de los Alpes“ einbrachte. Schon in jungen Jahren war er von der Unterwelt gefesselt und betrieb eifrig Höhlenforschung. Noch mehr faszinierte ihn allerdings eine ganz besondere Unterwelt: diejenige der Alpengletscher. Zahlreiche Eishöhlen erforschte er mit seinen Gefährten. Nun liegen seine Gänge durch vergängliche Grotten und Schlünde im grossartigen Bildband „Mémoires sous-glaciaires. Découverte d’un univers éphémère“ vor: ein Dokument für die Ewigkeit, denn die Gletscher verschwinden bekanntlich immer schneller. Étienne Mayerat weilt auch nicht mehr unter uns: Er starb am 26. März 2021 im Alter von 63 Jahren an Krebs. In 14 Schweizer Gletscher, insbesondere der Walliser Alpen, ist er hineingestiegen und hat absolut faszinierende Bilder gefunden. Eine neue Welt tut sich da auf, die leider so keinen Bestand haben wird.

Ebenfalls der unterirdischen Welt widmet sich die französischen Kulturzeitschrift „L’Alpe“ in ihrer 98. Ausgabe. „Les Alpes souterraines“ erforscht in gewohnt souveräner Manier die Terra incognita: Blickt zurück auf die Anfänge der Speläologie; bringt archäologische Funde von drinnen ans Licht; zeigt Fotos von Peter Gedel, der als einer besten Höhlenfotografen gilt; wagt sich in schweizerische Bunker vor, die nicht mehr militärisch genutzt werden; besucht das CERN bei Genf; porträtiert die vergessene Speläologin Gabrielle Vallot, Ehefrau von Joseph Vallot (ja, sein Name ist verewigt im Refuge Vallot an der Normalroute zum Mont Blanc). Und im ABCdaire zur Speläo-Geomorphologie findet sich beim Buchstaben S eine einleuchtende Erklärung dafür, ob die Tropfsteine Stalagmiten und Stalaktiten am Boden oder an der Decke wachsen: les stalagmites montent, les stalactites tombent. Wer deutsche Eselsbrücken sucht, findet sie hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Tropfstein. Daran denken beim nächsten Besuch einer felsigen oder eisigen Höhle – Eiszapfen sind Stalaktiten.

Wer unter Platzangst leidet, sollte um diesen Führer zu unterirdischen Schweiz einen Bogen machen. Denn in „Höhlen und Löcher. Wanderungen zum Inneren der Schweiz“ hat Andreas Staeger 35 Ziele unter der helvetischen Oberfläche gefunden: natürliche und künstliche Höhlen, Balmburgen, Bergwerkstollen, Festungen, Eisgrotten. Diese verborgenen Sehenswürdigkeiten verbindet der Autor immer mit einer normalen Wanderung. So kommen alle Benutzer auf ihre Kosten: stramme Wanderer, Abenteuer liebende Kinder, Schatzsucher und an der Hitze Leidende. Die (wander)touristischen Infos sind gut, die Kärtchen verschaffen den nötigen Überblick und die Fotos Vorfreude. In einer zweiten Auflage müssten aber noch unbedingt der 800 Meter lange Schaflochstollen unter dem Sigriswiler Rothorn und die mit einem Wanderweg erschlossenen Grottes de Naye oberhalb des Château de Chillon aufgenommen werden. Und die Tour zu den Sandsteinbrüchen von Burgdorf könnte gestrichen werden: Wenn man die Höhlen und Löcher nicht betreten sollte, warum dann vorstellen? Klaustrophobiker hingegen sind froh darüber.

Étienne Mayerat: Mémoires sous-glaciaires. Découverte d’un univers éphémère. Éditions Slatkine, Genève. 2022. Fr. 58.-

Les Alpes souterraines. L’Alpe, N° 98, automne 2022. Éditions Glénat Grenoble. Fr. 26.-

Andreas Staeger: Höhlen und Löcher. Wanderungen zum Inneren der Schweiz. AT Verlag, 2022. Fr. 33.-

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