Geburtstag auf den Sonnenplatten von Ponte Brolla. Klettern als Therapie gegen Altersmelancholie.
Bekanntlich ist Alter keine Garantie für Weisheit, und für diese Erkenntnis bin ich wohl der beste Beweis. Für meinen runden Geburtstag hatte ich nur einen Wunsch: Klettern! Ein Wunder geschah, die Wetterfrösche prophezeiten gut Wetter im Süden. Und nun klettern wir also an der gemütlichen Wand von Ponte Brolla, schon fast zu heiss ist es, und rundum krabbelts wie auf einem besonnten Ameisenhaufen. Vernunft ist Gottesgabe (Kant würde wohl Einspruch erheben), den jungen Ameisen rundum wurde sie jedenfalls geschenkt. Unsere Enkelgeneration klettert konsequent mit Helm, wir Alten sind dazu zu bequem oder wohl eher noch zu eitel. Obwohl ja schon unter der Wand ein Brocken neben uns herabkrachte. Also weder vernünftig noch weise und doch schon 70!? So ein langes Leben hält doch manche Krise bereit, und wenn ich mal kurz zurückschaue, während ich meine Liebste sichere, dann stelle ich fest. Stets überstand oder überwand ich die schwierigen Momente mit Klettern. (Also gegenwärtig ist ja kein schwieriger, ausser dass ein Wohnungswechsel ansteht, so etwa der achte.) Man kann das auch Flucht nennen.
Kletternd zog ich mich jedenfalls stets aus dem Sumpf, wie Münchhausen am eigenen Zopf sozusagen. Ich glaube fast, diese Verknotung von Krise und Klettern führte zu einer Art Sucht. Oder etwas milder ausgedrückt, zu meinem schönen Wunsch, den ominösen Tag halt kletternd zu verbringen, statt speisend und trinkend (das kann man ja am Abend immer noch, in einem schönen Restaurant in Locarno am Lido). Oder gar in Altersmelancholie versinkend. Die Konzentration auf die kleinen schönen Griffe und Tritte der «wilden Sophie» jedenfalls lässt mich die Zahl 70 und ihre biologische Bedeutung vergessen, 6b ist ja auch schon beinahe 7. Und es geht ganz gut, zugegeben, ich kenne die Kniffe. Da fällt mir eben ein, dass ich schon mal so ein Projekt hatte, zum 50sten. Da hatte ich mir Coconut vorgenommen, Finale, 6c+. Aber dazu kam es nicht, kurz zuvor brach ich mir auf der Galerie beim Klettern den Fuss. Die letzten zwanzig Jahre haben meine Psyche offenbar nicht gross verändert, die Alterweisheit hat mich nicht gestreift. Ich blicke frohgemut den 80 entgegen, mathematisch vorausberechnet werde ich dann eine 6a klettern. Hoffentlich.
aaallez!
😉
alles gute im neuen emil-jahr;
herzlich,
Lieni
Lieber Emil
bei den einen ist es Weisheit, bei den anderen die Weise wie man klettert die den Unterschied macht. Doch soll das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden. Sicher kommen durch das Klettern auch Kontakte zustande, durch die Kontakte Gespräche und durch die Gespräche neue Erkenntnisse. Diese Erkenntnisse kumuliert sind dann auch schon fast Weisheit. Das funktioniert erst nicht mehr, wenn die Erkenntnis, dass das Klettern keine Erkenntnis mehr bringt überwiegt. Dann ist es Zeit, aufzuhören. Vorher nicht. Alles Gute nachträglich zum Geburtstag.
Urs
Ich finde die Einstellung zum Leben klingt doch eher nach Weisheit, denn nach Torheit.. Meinem Vater nicht unähnlich, immer bemüht aus dem vollen zu schöpfen und zu erleben. Ich kann das vollkommen nachempfinden..
mfg Jan Ove