Berg oder Frau? Die alte Frage hat schon den Tartarin de Tarascon umgetrieben, er hat es schliesslich doch auf die Jungfrau geschafft – literarisch und in einer Neuausgabe. Real standen bekanntlich vier Schweizer vor genau zweihundert Jahren auf dem Gipfel. Ob auch sie die alte Frage umtrieb, ist unbekannt.
Wie alle Prachthotels von Interlaken liegt das von Herrn Meyer gehaltene Hotel Jungfrau am Höheweg, der breiten Promenade mit zwei Reihen mächtiger Nussbäume, die Tartarin von fern an seinen geliebten Stadtwall von Tarascon erinnerte, nur dass die Sonne, der Staub und die Grillen hier fehlten; denn seit einer Woche, die er sich hier befand, hatte es nicht aufgehört zu regnen.
Er bewohnte ein sehr schönes Zimmer mit Balkon im ersten Stock. Und wenn er morgens vor einem kleinen Handspiegel am Fenster seine Toilette beendete, eine alte Reisegewohnheit, so war der erste Gegenstand, dem seine Augen jenseits der Wiesen, der Kleefelder und der steil ansteigenden Tannengehölze begegneten, die Jungfrau, die ihren schneeweissen Gipfel aus den Wolken erhob, und stets von einem flüchtigen Blick der verborgenen Sonne geherzt wurde. Dann entspann sich zwischen der rosig und weiss schimmernden Alpenfee und dem Alpenfreund von Tarascon ein kurzes Zwiegespräch, dem es an grossen Zügen nicht gebrach.
«Tartarin, sind wir bereit?» fragte die Jungfrau strenge.
«Voilà, voilà…» antwortete der Held, und er beeilte sich, mit seinem Bart fertig zu werden. Rasch hatte er sein Kostüm für die Bergbesteigung angelegt, das er seit einigen Tagen in die Ecke geworfen hatte. Er machte sich selbst Vorwürfe über diese Vernachlässigung:
«Verwünschte Geschichte», sagte er zu sich selber. «Nun ja, es ist toll von mir…»
Aber eine kleine, bescheidene, helle Stimme drang zwischen den Myrthenstöcken auf den Fenstersimsen vom Erdgeschoss herauf:
«Guten Tag…» sagte Sonja, als sie ihn auf dem Balkon erscheinen sah. «Der Landauer erwartet uns… eilen Sie sich, Faulpelz…»
«Ich komme, ich komme…»
Charmant, n’est-ce pas? Der Berg ruft, die Frau ebenso, und Tartarin, der liebenswürdig-ungehobelte Held des französischen Romanciers Alphonse Daudet, entscheidet sich – für Sonja Wassiljew, eine russische Revolutionärin. Vorerst wenigstens. Bis ihn eilends herbei gereiste Freunde aus der sonnigen Provence daran erinnern, warum er überhaupt in die regnerische Schweiz gereist ist: Er will seinen von einem neidischen Konkurrenten beanspruchten Titel als P. C. A., als Präsident des Club Alpin von Tarascon, mit einer mutigen Besteigung der Jungfrau zu verteidigen.
Voilà! Das ist die Ausgangslage für einen humoristisch-authentischen Bergtourismusroman, wie es vor „Tartarin sur les Alpes“ keinen gegeben hat. Nicht einmal Mark Twains wunderbar bissiger Reisebericht „Bummel durch Europa“ geht so hoch ins Hochgebirge wie Daudet mit seinem Helden. Und was dieser da erlebt in der Guggi-Hütte an der Jungfrau und im Gletscherlabyrinth, ist so amüsant-herzhaft wie die Abenteuer mit der Hotelgesellschaft auf der Rigi, im Kerker des Schloss Chillon oder zuletzt in Chamonix. Und dann ist da eben noch die Liebesgeschichte mit Sonja – was wäre ein Roman ohne amouröse Verstrickungen…
So wie Tartarin die Besteigung der Jungfrau immer wieder hinausschiebt und den beiden Führern von Grindelwald, Rudolf Kaufmann und Christian Inäbnit, mit denen er die Besteigung über die Guggi-Route abgemacht hat, jeweils abschlägigen Bescheid geben muss, so hat sich auch die Neuausgabe von „Tartarin in den Alpen. Die Besteigung der Jungfrau und andere Heldentaten“ im AS Verlag leicht verzögert. Doch demnächst kann man mit Tartarin wieder auf den 4158 Meter hohen Eisgipfel steigen: „Jetzt fehlten nur noch hundert Meter bis zur Spitze der Jungfrau; aber obgleich der Schnee hart und der Weg leicht war, kostete sie diese letzte Strecke eine unendliche Zeit, da die Müdigkeit und die Atembeschwerden des P. C. A. fortwährend zunahmen. Plötzlich liessen die Führer ihn los und ihre Hüte schwenkend, schmetterten sie einen hellen Jodler hinaus. Man war auf dem Gipfel.“
Genau heute vor 200 Jahren, am 3. August 1811, gelang das Abenteuer erstmals. Kurz nach zwei Uhr standen vier Alpinisten auf dem ersten Viertausender der Schweiz: die Aarauer Industriellensöhne Rudolf und Hieronymus Meyer und die Walliser Gemsjäger Joseph Bortis und Alois Volken. „Als einmal der schwerste Schritt gethan war, ebnete sich das Schneelager, und wir kamen nach wenigen Schritten auf den höchsten Punkt des Jungfraugebirges zu stehen“, schrieben die beiden Städter im Bericht, der in der Zeitschrift „Miszellen für die Neueste Weltkunde“ vom 24. und vom 28. August 1811 abgedruckt ist.
Die historische Tat wird gebührend gefeiert, heute mit einer Sternbesteigung über vier Grate und abends mit der grossen Jubiläumsfeier in Wengen, an der Bundesrat Ueli Maurer die Eröffnungsrede hält.
„Ueli, sind wir bereit?“, wird die Jungfrau vielleicht fragen.
Alphonse Daudet: Tartarin in den Alpen. Die Besteigung der Jungfrau und andere Heldentaten. AS Verlag, Zürich 2011, Fr. 29.80.
Daniel Anker: Jungfrau – Zauberberg der Männer. AS Verlag, Zürich 1996, Fr. 45.-
Peter Brunner: 200 Jahre Jungfraugipfel, 125 Jahre Bergführerverein, 100 Jahre SAC Sektion Lauterbrunnen. Verlag Schlaefli & Maurer, Interlaken 2010, Fr. 48.-
Peter Genner: Von Aarau nach Bayern: Auswanderung und Niedergang der Unternehmerfamilie Meyer (1. Teil), in: Aargauer Neujahrsblätter 2011, Verlag hier+jetzt, Fr. 20.-
(Johann) Rudolf & Hieronymus Meyer: Reise auf den Jungfrau-Gletscher und Ersteigung seines Gipfels im Augustmonat 1811 unternommen. Aus den Miszellen für die neueste Weltkunde besonders abgedruckt, 1811; Reprint 1961.