Nagelfluhklettern, ein eher seltenes Vergnügen. Nicht im Monserrat, sondern hoch über Bregenz am Bodensee, das eher für Festspiele bekannt ist, als für ein Kletterfest.
Der Name klingt ja nicht gerade nach einem grossartigen Klettergebiet: Känzele. Aber weil Bregenz mit dem Zug so gut erreichbar ist und Freund Robert Steiner in der Nähe wohnt, fahre ich durch das Ostschweizer Nebelland an den Bodensee. Es wird wohl ein kalter Tag werden, denke ich, aber die letzte Geschichte, die ich von Robert gelesen habe, erzählt von seiner Solobesteigung der «Nose» im Winter. Der Tarif ist jedenfalls gesetzt. Die Sonne hat dann doch ein bisschen Erbarmen mit dem alten «Gfrörlig». Die vorsorglich eingepackte lange Unterwäsche bleibt sogar im Rucksack, aber die Notration an heissem Tee tut doch gut. Und Roberts Daunenjacke hilft beim Aufwärmen während des Sicherns.
Wir sind allein an dieser seltsamen Wand aus Sandstein und Nagelfluh, unter senkrechten Pfeilern, gekrönt von wuchtigen Überhängen. Das Känzele wird aus der Froschperspektive zur gigantischen Kanzel. Über hundert Routen soll es da geben. Die Orientierung nach Achim Pasolds Kletterführer scheint allerdings nicht so einfach – ich überlasse das meinem jungen Extremkletterer und Freund, der mich auch sonst liebevoll umsorgt und immer darauf achtet, dass er erste Haken eingehängt bleibt, wenn ich vorsteige.
Nagelfluhklettern, das erinnert an kindliche Kletterversuche an Nagelfluhblöcken im Zürcher Oberland. Dort bröckelte alles, aber hier sind die rundgeschliffenen Steine fest eingebacken in Sandstein und erstaunlich griffig. Klettergenuss, trotz gelegentlich kalten Händen. Schöne Risse und Verschneidungen gibt es auch, gelegentlich wirkt der Fels nicht so eisenfest. Die ersten, die sich hier hochwagten, muss man direkt bewundern ob ihrem Mut. Es gibt da eingeklemmte Blöcke, die ich kaum zu berühren wage.
Allmählich frage ich mich, ob es hier ein Kletterverbot gibt, da an einer so attraktiven Kletterwand in Sichtweite einer grossen Stadt bei passablem Wetter niemand auftaucht. Aus den Rissen dringt da und dort ein verdächtiges Gepiepse – Fledermäuse, erklärt Robert. Und wir sind ja in Österreich, nicht in Deutschland, wo radikale Naturschützer, angereist im BMW, im Dienst von Zug- und Brutvögeln und ökologischem Fundamentalismus manche Felsen überwachen. Für die paar Locals, die später auftauchen in dicken Kappen und Jacken, scheint der Begriff jedenfalls ein Fremdwort zu sein. «Kletterverbot, hier? Wo denkste hin!»
Wir klettern also beruhigt weiter und tauschen dabei allerhand Gedanken aus, übers Schreiben, über Verlage, Literatur, gemeinsame Projekte, unsere Familien, das Klettern und das Leben im allgemeinen. Als sich die Sonne endgültig verabschiedet, reicht die Zeit gerade noch für eine Tasse Kaffee im Restaurant auf dem Felsen, Robert schenkt mir zum Abschied am Bahnhof noch einen Kanister mit selbstgepresstem Apfelsaft, Kalorien und Vitamine für neue Projekte.