Kärpf

Ein Versuch mit Ski am Hausberg meines Vaters. Erfahrungen eines Helden von einst.


Hundert Schritte, stehen bleiben, nochmals hundert Schritte versuchen, nach fünfzig wieder stehen bleiben, atmen, atmen. Ein grandioser Tag, im Süden steht die Nordwand des Haustocks, über uns ragt das Horn des Grossen Kärpf ins Blau. Wir wollen ja nur auf den Kleinen, wie früher schon oft, dann im Sulzschnee die weiten Hänge gegen Elm hinunterschwingen. Aber vorerst geht es noch hinauf, ziemlich steil. Fünfzig Schritt, die Beine wie Blei, nach über tausend Metern Aufstieg, das Herz pocht heftig. Ja, das liebe Herz. Es ist halt auch schon ein bisschen geflickt, zwei Stent, zwölf Jahre haben sie schon gehalten. Aber wer weiss, vielleicht gehen sie gerade beim nächsten Schritt zu. Ich habe Nitroglycerinkapseln im Rucksack, für alle Fälle. Noch geht es einen letzten Hang hoch, direkt unter der Wand des Grossen Kärpf. Dort oben war ich auch mal, allein, es war ja der Hausberg meines Vaters. Während ich vom Kärpftor hinaufkletterte, hatte ich ein Gedicht im Kopf, ein Gedicht für meinen Vater und seinen Kärpf, aber da war kein Gipfelbuch zu finden, und zu Hause hatte ich das Gedicht wieder vergessen. Irgendwann werden wir ja alle vergessen sein, alle Menschen und alle Gedichte. Und wieder mal sechzig, siebzig Schritte. Atmen, atmen. Dann sehe ich schon meinen Gefährten den Hang herunterschwingen, die Erlösung. Er hilft mir sogar, die Felle abziehen. Das war nun wahrlich keine Meisterleistung, was immer auch der Grund war, Trainingslücke, schlechter Tag, Herz oder die Höhe, die ich schon immer schlecht vertragen habe oder alles zugleich. Der Sulz ist dann auch nicht immer so sulzig, durchsetzt mit gefrorenen Spuren, auch solchen von modernen Yetis mit breiten Tatzen, die so gern die schönen Aufstiegsspuren zertrampeln. Aber wir sind ja tolerant. Und da kommt mir eben noch in den Sinn, dass mein Vater mal behauptete, er habe mit ein paar Kumpels aus Schwanden die erste Skibesteigung des Kärpf vollbracht, aber eigentlich kann das ja gar nicht sein, es ist eine so typische Vatergeschichte. Die Helden von einst. Bin ja auch so ein Vater übrigens. So ein verlorener Held, komme nichtmal mehr zur Kärpflücke hoch ohne hundert Mal stehenzubleiben. Übrigens konnte ich mit Vaters Eschenski ohne Belag und Kanten und seinen Seehundsfellen aus den Zwanziger- oder Dreissigerjahren meine erste Skitour machen, Gemsfairen von Linthal alles zu Fuss und wieder hinab. Das zum Thema alte Helden. Auf Erbsalp trinken wir dann ein kühles Elmer Zitro und ich esse ein Stück Apfelwähe und alles Weh und Ach ist schon fast wieder vergessen. Der Hausstock gegenüber, warst du da auch schon oben? Nein, aber vielleicht. Man müsste wohl noch etwas trainieren.
(Fotos Heini Gächter)

Ein Gedanke zu „Kärpf

  1. Die Spuren die unsere Väter hinterlassen können tief sein oder umgekehrt hoch wie die Gipfel und so bleiben sie lebendig in uns.

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