Kein Sommerflor im Gärtli

© Annette Frommherz Annette ist Autorin und Berg(ein)steigerin.

glarnisch-07-2009-19

Wetterprognosen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Aus der Küche der Glärnischhütte vernehmen wir vom trockenen Radiosprecher aus dem trockenen Radiostudio, dass der zu Ende gehende Tag schönes und heisses Wetter gebracht habe und der nächste gewittrig werden soll. Ersteres haben wir beim Aufstieg zur Hütte am eigenen Leib erfahren und kann der Vergangenheit zugeordnet werden. Und Letzteres ist uns zu ungenau. Alpine Hütten haben es an sich, dass auf Netzverbindungen kein Verlass ist. Mein Bergführer beschliesst, am nächsten Morgen aufzubrechen. Ob er dies aus Intuition oder aus der beruflichen Erfahrung heraus entschieden hat, wage ich nicht zu fragen.

Dem Vreneli sein Gärtli möchte ich erklimmen, um zu sehen, was in all den Jahren aus seinem Pflanzplätz geworden ist. Mir ist bewusst, dass ich hoch oben beim Vreneli keinen Sommerflor finden würde; eher kalten Wind um die Ohren und Eis und Schnee. Klettergurte, Karabiner und Steigeisen sind längst bereit gelegt, als wir uns nach einem prüfenden Blick in den Nachthimmel ins rotweiss-karierte Bettzeug legen; ich in weiser Voraussicht im Massenschlag, auf dessen Türe ‚Vrenelis Gärtli’ steht. Ich muss etwas schneller schlafen als gewöhnlich, denke ich, wenn bereits um halb vier Uhr Tagwache sein soll. Das Denken lässt mich lange keinen Schlaf finden. Bisher genügten mir Wanderungen auf den Mattstock oder den Gulmen, auf das Hirzli, entlang dem Walensee oder rund um den Mürtschenstock. Nun will ich etwas höher hinauf, da, wo von Firnschnee und Gletschermoränen die Rede ist und davon, was uns die vielen Sagen rund um die Gipfel weismachen wollen.

Meiner Kondition bin ich gewiss und der Rucksack ist nur mit dem Nötigsten gefüllt. Aber was, wenn meine Höhenangst mir ein Schnippchen schlagen würde? Insgeheim hoffe ich, dass in der Ausbildung zum Bergführer den psychologischen Aspekten genügend Rechnung getragen werde. Während ich von Graten träume, deren beidseitige abgrundtiefe Seitenblicke mich magisch in die Tiefe zu ziehen drohen, vergehen die wenigen Stunden, die mir zur Erholung genügen müssen.
Die Hüttenwartin lässt es sich nicht nehmen, nur für uns aufzustehen, denn wir sind ausnahmsweise die einzigen Gäste; erst später wird mir klar weshalb. Sie kocht frischen Kaffee und tischt uns ein stärkendes Frühstück auf. Lange kann ich es nicht geniessen, mein Bergführer drängt zum Aufbruch. Das gute Wetter würde nicht mehr allzu lange halten – deshalb jetzt oder nie, sagt er. Mit Gewittern in Gipfelnähe ist nicht zu spassen, das weiss sogar ich. Während ich den Rucksack mit den letzten Sachen packe, erinnere ich mich an einen Dokumentarfilm über die Besteigung des Mont Blanc, wo die japanischen Gäste bereits während dem Frühstück angeseilt werden, um als erste Seilschaft losziehen zu können. Auf diesen Stress kann ich getrost verzichten; hier in dieser frühen Stunde verläuft alles ruhig. Und schliesslich wartet kein Mont Blanc auf uns.

Die Stirnlampen führen uns durch die schwarze Nacht, offenbaren uns den steilen Pfad, der uns zunächst zum Glärnisch-Gletscher führen soll. Die Umrisse eines Gemsbocks zeigen sich so imposant auf dem Grat über uns, als würde das gute Tier dafür vom Tourismusverband bezahlt. Eine Arnika verteidigt ihren Standort; stolz streckt sie ihren Kopf mitten aus der Geröllhalde. Noch in der Dämmerung lässt es sich erahnen, mit welcher Kraft die Blüte goldgelb leuchtet. Aus dieser Heilpflanze, die zu den Korbblütlern gehört und die in meinem Garten unter weniger harten Bedingungen wuchs, habe ich vor Jahren Essenzen gewonnen. Bei Prellungen und Verstauchungen hilft die Kraft der Pflanze; bestimmt tut sie es auch bei meinem absehbaren Muskelkater.

Die Nacht ist klar, warmer Fön im Gebläse. Helle Sterne übersäen den Himmel, und die Mondsichel ist für mich ein klarer Beweis, dass ich noch auf dieser Welt weile. Ich laufe in gleichmässigen Schritten hinter meinem Führer. Bald wird es Tag, die Umgebung hellt sich allmählich auf.

Bergführer verdienen ihr Geld vor allem mit ihrem Optimismus. Sie schauen in den wolkenbedeckten Himmel – kurz vor dem Regenguss – und reden davon, dass das Wetter gar nicht so schlecht werde. Das müssen sie sagen, denn bei schlechtem Wetter, wirklich schlechtem, müssen Touren abgesagt werden. Da hat die Natur kein Erbarmen. Doch keine Tour heisst kein Einkommen.
Auch heute ist ein Tag für optimistische Bergführer. Ich wage meinen Blick kaum vom schmalen Pfad zu heben. Einerseits, weil ich in diesem Tempo nicht so trittsicher bin wie mein Vordermann, und zweitens, weil um uns in Bälde dichter Nebel aufkommt. Wir erreichen den Gletscher, schnallen die Steigeisen an und ziehen die Kapuzen über, weil es angefangen hat vom Himmel zu tropfen. Ein fragender Blick meinerseits zu meinem Bergführer. Noch will er nicht aufgeben, noch sieht er keine Gefahr. Ich muss ihm vertrauen, etwas anderes bleibt mir nicht übrig. Wir marschieren über Eis und Schnee. Mit jedem Schritt schieben wir den Nebel vor uns her. Über uns scheint es wieder einzudunkeln. Ich kann nichts um mich herum erkennen ausser meinem Begleiter, dem ich nun um nichts in der Welt von der Seite weichen würde.

Wenig später prasselt Regen auf uns nieder, und ein erster Blitz mit kurz nachfolgendem Donner lässt mich erschaudern. «Wir kehren um!» ruft mein Vordermann nun endlich. Ich lasse mich nicht zwei Mal bitten. Während er die Regenhosen überzieht (ich habe meine im prall gefüllten Kleiderschrank nicht finden können), ordert er mich an, weiter zu laufen. Als ich nach ein paar Metern einen Blick zurück werfe, kann ich nichts mehr erkennen. Ich rufe in die Nebelwand. Er kann mich doch hier nicht der Macht der Natur überlassen! Da rennt er herbei und wir eilen über das Schneefeld talwärts. Weiter unten hat sich der Bergpfad in einen Bergbach verwandelt. Über uns kracht der Himmel; das Gewitter scheint sich direkt über unseren Köpfen zu entladen. Sobald der Nebel sich verzogen hat, geht mein Puls etwas normaler, und wie ich nach einer Ewigkeit weit unten das Dach der Glärnischhütte erkenne, stellt sich Vertrautheit ein. Fast schon ein Gefühl des Heimkehrens. Die Arnika im nassen Gras lässt ihren Kopf hängen.

Noch steht uns ein steiler Abstieg bevor. In der Nässe suhlen sich Bergsalamander auf dem Pfad, glänzend schwarz, wie frisch poliert. U nid numen eis, nei, zwöi, drü, vier, füüf, es ganzes Schoossingong voll si da desumegschläberlet u hei zängpinggerlet u globofzgerlet u gschanghangizigerlifisionööggelet, das es eim richtig agschnäggelet het. Anstatt ‚Achtung’ zu rufen, vermindert mein Vorausschreiter den Ruf bald auf ‚piep’, damit ich gewarnt werde und den Tierchen ausweichen kann. Das Gepiepe wird zum beruhigenden Begleitruf, fast schon zum Ritual, und als wir durchnässt bei der Hütte ankommen, bin ich mir sicher, nicht oft in meinem Leben erleichterter gewesen zu sein.

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