Vor Jahren galten die Tessiner Klettergebiete als streng geheim, nur die lokalen Scoiattoli wussten wo und wie es die Wände und Platten hochging. Tempi passati. Heutzutage herrscht auf den Granitplatten von Ponte Brolla und anderswo oft Stau wie zu Ostern am Gotthard. Dank Bohrmaschine, sonnenhungrigen Freaks und rührigen Topo-Verlegern gibt es doch immer noch Neues und vorläufig Unbekanntes zu entdecken.
„Spät in der Nacht brachte uns die Post nach Bellinzona. Tags darauf ging es weiter nach Magadino und über den obersten Theil des Langensees nach Locarno. Hier schien sich das Wetter wieder zum Bessern zu wenden, so dass ich beschloss sofort in die Berge zurückzukehren und mit der Heimreise einen Besuch des Pizzo Basodine zu verbinden. Nachdem Trösch mit einiger Mühe von dem lebensfrohen, welschen Treiben sich losgerissen hatte, führte uns der Weg in der Abendkühle nach der landschaftlich, wie geologisch und botanisch merkwürdigen Schlucht von Ponte Brolla, wo tief unten der krystallhelle, blaugrüne Fluss durch schneeweissen scharfkantigen Fels sich einen gewundenen Kanal eingefressen hat.“
Der diesjährige Osterstau am Gotthard ist vorbei, auf geht’s in Tessin! Der Basler Wilhelm Bernoulli stimmt uns mit seinen „Streifzügen im Gotthard-, Adula- und Tessingebiet“ aus dem siebten Jahrgang des „Jahrbuch des Schweizern Alpenclub“ von 1871/72 bestens ein. Als Botaniker und Alpinist nahm er die Landschaft bei Ponte Brolla wahr, aber noch nicht als Kletterer. Die hohen Gipfel riefen, wie der Basòdino zuoberst in der Vallemaggia. Heute ist das etwas anders. Heute locken die scharfkantigen bis glattgeschliffenen Felsen, von Ponte Brolla taleinwärts bis – ja, bis fast zum Berg, den Bernoulli und der Urner Bergführer Joseph Maria Trösch dann doch nicht besteigen konnten, weil das Wetter nicht mitmachte. Am Südfuss des Basòdino liegt das Rifugio Piano delle Creste der Società Alpinistica Valmaggiese, und in seiner Nähe befinden sich drei kleine Klettergebiete. Ein Ziel allerdings für den Sommer. Doch gibt es genügend andere im Frühling – und wie!
Zwei neu erschienene Kletterführer entführen uns auf die Alpensüdseite. Einmal „extrem SUD“ aus dem berühmten Hause Filidor. 13 Jahre sind seit der Erstausgabe vergangen, nun halten die Kletterer und Kletterinnen, die es gerne schwierig und mehr mögen, wieder ihr Lieblingsbuch für sportliche Ausflüge zu den Felsen zwischen Domodossola, Locarno, Bellinzona und Lecco in den Händen. Gewohnt übersichtlich und klar geordnet, fehlt es an Nichts in diesem Werk. Und wer denn alle Felsen im Ticino aus der Nähe gegriffen hat, sollte mal ins Val di Mello fahren, das europäische Yosemite Valley.
„Varese e Canton Ticino Falesie“ von den Edizioni Versante Sud, also vom norditalienischen Pendant zum berneroberländischen Filidor, richtet sich nicht nur an extreme Climber, sondern auch an die Plaisirkletterer. Das macht der 2011 herausgekommene Filidor-Führer „plaisir SUD“ natürlich auch. Doch zurück zum Konkurrenzprodukt aus der Reihe „Luoghi verticali“. Darin werden mit der Region Varese auch Klettergebiete vorgestellt, die hierzulande kaum bekannt sind. Zum Beispiel Maccagno direkt am Lago Maggiore: „Interessante Linien, ein bemerkenswertes Panorama und gemütliche Bänke erlauben genussvolle Klettertage mit der gesamten Familie.“ Andiamo! Von Bellinzona bringt uns der Zug über Magadino in nur 38 Minuten dorthin.
Sandro von Känel: extrem SUD. Deutsch, Italienisch, Englisch. Edition Filidor, Reichenbach 2014, Fr. 48.- www.filidor.ch
Matteo Della Bordella, Davide Mazzucchelli: Varese e Canton Ticino Falesie. Oltre 50 siti di arrampicata a Varese, Lugano, Bellinzona, Biasca, Val Bedretto, Val Maggia e Locarno. Mit deutscher Übersetzung. Edizioni Versante Sud, Milano 2015, € 30.- www.versantesud.it