Kletterrentner

«Bewegung» lautet die wirkungsvollste Medizin, die der Gerontologie zur Verfügung steht. Und welcher Ort eignet sich als Therapiestation besser als eine Kletterhalle. Hier kann man auch wirklich alt aussehen und niemand kümmert’s.

kinderhalle

Seit die Kletterhalle in S. den Tages- und Rentnerrabatt aufgehoben hatte, war Nobi nicht mehr mitgekommen. Doch dann hatte er Paul angerufen: «Du, in L. gibt’s eine Halle, soll super sein und kostet tagsüber für Pensionierte nur 10 Franken. Gut erreichbar übrigens mit OeV.»
OeV, das klang in Pauls Ohren wie Bahnhof, aber warum nicht mal. Schliesslich war schon das Lösen des Tickets am Automaten schon Teil des Abenteuers, und Max wollte auch wieder mal dabei sein. Er kletterte zwar kaum mehr, aber sicherte solid mit seinem Gewicht.
So wanderten denn die drei Unentwegten durch ödes Industrieland, leiser Regen rieselte auf ihre Köpfe und Kappen. Schirm? Bewahre! Doch nicht alte Bergsteiger mit Biwakerfahrung, gestählt in Steinschlag und Sturm.
«Klettereldorado» stand auf dem roten Kubus, den sie schliesslich mit Pauls GPS orteten. Beim Eingang stiessen sie auf eine lärmende Schar Kinder im unteren Kindergartenalter, die auf dicken Matten herumhopsten, mit Spielzeugautos und Stoffbären spielten. Auf einem Tischchen stand eine Schale mit Früchten, Getreideriegel lagen herum und Getränkefläschchen. Zwei junge Frauen hielten Aufsicht, eine fütterte gerade ein Baby nach der Naturmethode.
«Ich glaub’ wir haben uns in der Adresse geirrt», murmelte Franz.
Paul meinte trocken: «Ich bin auch ein Kindergarten.»
Sie schrieben sich ein, füllten Formulare aus, kreuzten das Feld «erfahrene Bergsteiger» an, liessen sich von der jungen Frau am Tresen ausführlich informieren über die Haus- und Kletterordnung, unterschrieben , bezahlten und zogen sich in der Garderobe um. Paul kam sich etwas komisch vor in den neuen hautengen und pinkfarben glitzernden Kletterhosen, die ihm seine Flamme auf den Geburtstag geschenkt hatte. Er, der einst auf den Eiger trainiert hatte, fühlte sich ohnehin irgendwie daneben in der Halle, in der nun schon Vorschulkinder wie junge Äffchen an farbigen Griffen herumturnten. Überhaupt das mit den Farben. Sein Arzt meinte zwar, Bewegung im Alter wäre jedenfalls gut und die Farbe als weiteres Aufmerksamkeitsmoment würde auch die geistige Beweglichkeit trainieren. Nobi machte es sich einfach und behauptete, er sei farbenblind von wegen dem Zucker. Franz schrie ihm während des Sicherns hinauf: «Nicht den Griff dort links, der ist grün. Du bist doch auf gelb!»
«Im Frühling gehen wir dann wieder mal an den Brüggler», meinte Paul. «Da sind alle Griffe gleich grau.»
«Nee», meinte Nobi, der die 5a bis zum Top geschafft hatte. «es gibt dort auch grüne. Gras nämlich.»
«Ich dachte, du seist farbenblind.»
Paul packte gleich eine 6a an, schliesslich war er ein Eiger-Veteran. Also … geschafft hatte er ihn ja damals nicht, schuld war nur das Wetter gewesen, ein verregneter Bergsommer. Und eigentlich hatten sie ja nur den Mittellegigrat im Aug gehabt, aber mit den Jahren und dem immer wieder Erzählen war schliesslich die Nordwand draus geworden. Eiger war Eiger, Nobi hatte es auch nur mal mit einem Führer aufs Matterhorn geschafft wie tausend andere. Und Paul schaffte es bis zum dritten Express, dann fehlte einfach ein Griff. Den musste jemand abgeschraubt haben, unmöglich konnte ein Mensch den nächsten erreichen. Er hing im Seil und neben ihm tänzelte die junge Frau, die vorhin ihr Baby gestillt hatte, leicht und lächelnd an ihm vorbei … Unten schaute er verstohlen aufs Täfelchen und las – 6c!!!
An der Kaffeebar unterhielten sie sich dann sehr laut über früher, Franz hatte ja sogar mal eine Erstbegehung gemacht, irgend ein Plattenschleicher auf der Furka. «Ein oberer Fünfer», verkündete er.
Nebenbei und ziemlich laut erwähnten sie ihr ehrwürdiges Alter, so dass es die jungen Klettermütter hören mussten. Jetzt hing ein von ihnen wie eine Spinne unter einem Dachüberhang und bewegte sich leicht und locker. «Wenn die dann mal in unserem Alter sind …», meinte Nobi und seine Stimme klang etwas melancholisch.
Ein junger Mann in roter Jacke trat hinter den Tresen und sagte: «Ich hab’ euch beim Klettern zugeschaut, meine Herren. Eure Sicherungstechnik ist leider nicht mehr a jour. Ich zeige euch nachher, wie man den Grigri richtig handhabt.»
Paul war perplex. Nun kletterte er seit über fünfzig Jahren, hatte noch mit Schultersicherung begonnen und Dülfersitz zum Abseilen und hatte in Bergschuhen Fünfer geführt und da kam so ein Schnaufer und wollte ihm was beibringen. Schon wollte er den Typ abputzen, da spürte er Nobis Hand auf dem Arm.
«Danke, wir lassen uns gern belehren», hörte er ihn sagen. «Man wird alt wie ne Kuh und lernt immer dazu.»
Es wurde dann doch noch ein gemütlicher Nachmittag, und selbst Franz schaffte noch schnaufend und ächzend eine 5a mit seinen beinahe achtzig Jahren.

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