Steine, Felsen, Berge: Was passiert, wenn sie in Bewegung kommen, durch uns? Zwei Kunstbildbände geben überzeugende Antworten.
«Bergstürze gehören zu steilen Bergen. Sie sind Teil des kontinuierlichen Abtrages unter dem Einfluss der Schwerkraft und des Klimas. Zunehmend verändert der Mensch das Klima, die Atmosphäre wird wärmer und heizt auch die Berge auf. Dadurch wird der Frost in kalten Bergen geschwächt.»
So leitet der Glaziologe und Geomorphologe Wilfried Haeberli seinen Beitrag „Die Wand: Klima, Frost und Sturz. Cengalo – ein Vorläufer?“ im Bildband „La Frana“ ein. Wir erinnern uns: Am 23. August 2017 löste sich mit einem ohrenbetäubenden Donnern ein grosses Stück Felswand in der 1100 Meter hohen Nordwand des Pizzo Cengalo (3369 m) in den Bergeller Alpen. Drei Millionen Kubikmeter Gestein und Schlamm flossen durch das Val Bondasca bis ins Dorf Bondo hinunter, spülten Häuser, Strassen und Infrastrukturen weg und hinterliessen eine Geröll- und Schuttwüste. Nun liegt ein Buch zu dieser Katastrophe vor, ein ganz aussergewöhnliches, mit dem schlichten Titel, übersetzt: „Der Bergsturz“.
Die Arbeit an „La Frana“ begann an jenem 23. August. Die in Bonn geborene und heute in Genf und im Bergell arbeitende Künstlerin Sabine Tholen erfuhr über ein kurzes Video, was an dem Tag passierte. Es löste in ihr einen Prozess aus, dessen Abschluss vor uns liegt. Sie setzte sich fotografisch und zeichnerisch mit diesem Ereignis auseinander. Seitengross sind die Farbfotos von den granitenen Zinnen und Wänden des Bergells und insbesondere des Cengalo, dann werden die Fotos immer kleiner, zerstückelter, bis sozusagen Bildlawinen auf uns zurollen, die sich in Geröll und Schutt niederschlagen, unbarmherzig trotz Sonnenlicht. Am Schluss des Buches aber Fotos der gemachten Aufbauarbeiten mit Dämmen und zart grünen Hängen, seitengross und hoffnungsfroh. Unterbrochen wird die Bilderflut von zwei Textblöcken mit Interviews und Hintergrundberichten zum Bergsturz am Cengalo, ja überhaupt zum verstärkten Abbröckeln, Abrutschen und Abstürzen der Berge, daran die Menschheit nicht ganz unschuldig ist. Kurz: ein sowohl inhaltlich wie formal überzeugendes Buch zu einem singulären Ereignis in den Bergen und darüber hinaus. Erschienen in einem Verlag, den ich bis jetzt übersehen habe.
„Sehr geehrter Herr Anker. Ich schicke Ihnen wie gewünscht das Buch von Sabine Tholen, „La Frana“. Das Thema darin ist hochaktuell. Das 2. Buch „Nagelfluh“ von Andi Rieser hat mit dem Aufbau und Abbau unserer Landschaft zu tun.“ Das schrieb mir Gianni Pravicini, Verleger der Edizioni Periferia zusammen mit seiner Frau Flurina. Seit 30 Jahren gibt es diesen Kunstbuchverlag in Luzern. Auf https://periferia.ch/de/ heisst es unterem anderem zum Bildband von Andi Rieser, der im Luzerner Napfgebiet runde Nagelfluh-Steine sammelt, sie mit der Steinfräse aufbricht, poliert und so eine farbige, unbekannte Innenwelt einer wenig beliebten geologischen Schicht offenbart: „Das Buch zeigt eine Auswahl dieser Schnittbilder und setzt sie ihrer jeweiligen äusseren Form gegenüber. Der Blick hinein ins Innere der Steine wird mit Makroaufnahmen ergänzt und Landschaftsbildern der Fundgegend gegen übergestellt. Dabei zeigen sich Bildverwandtschaften und werden Assoziationsräume geöffnet, welche den Blick ins Urzeitliche mit den formgebenden Kräften der Gegenwart verbinden.“ Die Begleittexte stammen von Andi Rieser, vom Erdwissenschaftsprofessor Helmut Weissert und von Jana Bruggmann, Kuratorin, Kunst- und Geschichtswissenschaftlerin. In ihrem Beitrag lese ich: „Die Steine aus der Nagelfluh erhalten ihre Wirkung durch das Spannungsfeld zwischen Sehen und Wissen, Dokument und Kunstwerk.“ Zeugnis und Kreation – wie bei „La Frana“.
Sabine Tholen (Fotos): La Frana. Texte (Dt, It, Fr) von Jean-Marc Besse, Marc Bundi, Patrick Gosatti, Wilfried Haeberli, Rainer Michael Mason und Marcello Negrini. Edizioni Periferia, Luzern 2022. Fr. 48.-
Andi Rieser (Fotos): Nagelfluh. Texte von Andi Rieser, Helmut Weissert und Jana Bruggmann. Edizioni Periferia, Luzern 2022. Fr. 40.-