Und wieder ein neues Buch zum Salève, den französischen Hausberg von Genf. Uetliberg, Gurten, St. Chrischona und Freudenberg schauen neidisch zur Léman-Metropole.
«Самой красивой прогулкой за все время моего пребывания была прогулка по Салеве. Внизу – море тумана; в Женеве везде темно, а на горе – великолепное солнце; снег; маленькие санки, хороший русский зимний день.»
Das schrieb Wladimir Iljitsch Lenin 1904 seiner Mutter in einem Brief. Seit 1895 hatte sich der Revolutionär und spätere Begründer der Sowjetunion verschiedene Male in der Schweiz aufgehalten, so auch immer wieder in Genf. Dort nahm er jeweils das Tram nach Veyrier und wanderte über den steilen Pfad des Pas-de-l’Échelle auf den Salève, den Genfer Hausberg. Manchmal erreichte er die Höhe auch per Zahnradbahn. Lenins Wanderungen sind erwähnt im druckfrischen Buch „Le Salève de A à Z. Dictionnaire d’une montagne modeste et géniale“ von Dominique Ernst. Vor sechs Jahren hatte der Autor, ebenfalls in den Éditions Slatkine de Genève, das Buch „Le Salève – des histoires et des hommes“ herausgegeben. Mehr dazu hier: https://bergliteratur.ch/le-saleve/
Der 19 Kilometer lange und die Genfer Landschaft um 800 Meter überragende Bergrücken mit den Petit (899 m) und Grand Salève (1309 m) sowie dem Grand Piton (1379 m) gehört politisch zu Frankreich, gesellschaftlich, touristisch und psychologisch freilich zu Genf. Bergsportlich erst recht. Aufregend sind die Pfade in der eigentlichen Westflanke des Grand Salève. Nicht nur der Sentier des Etiollets, sondern auch seine Fortsetzung, der Sentier des Etournelles. Wer auf diesem ausgesetzten und nur an den allernötigsten Stellen versicherten Weg nicht hundertprozentig trittsicher und schwindelfrei ist, wird es bereuen, dass die Freizeitaktivität nicht auf die Genfer Seepromenade mit dem 145 Meter hochschiessenden Jet d’Eau beschränkt worden ist. Eine Abzweigung vom Etournelles-Pfad führt noch auf den Felsturm der Sphinx: Da wird man dann definitiv (zu) viel Luft unter den Wanderschuhsohlen haben.
Im Innern der Sphinx versteckt sich die gleichnamige Höhle, auch Grotte de Mule genannt. Bekannter ist jedoch das Trou de la Tine, wo der Sentier des Etournelles in den Salève-Höhenweg, den Sentier de la Corraterie, mündet. Eine riesige Höhle im obersten Felsband, deren Decke eingestürzt ist: Wenn man innen steht, hat man einen Triumphbogen vor sich, von dem Kletterer manchmal im Freien abseilen. Der Genfer Naturforscher und Alpinismuspionier Horace Bénédict de Saussure hat das Trou de la Tine um 1760 entdeckt. Er steht oben in der langen Liste grosser Alpinisten, die am Salève ihre ersten Touren gemacht haben. „Das erste Mal, dass ich zu diesem einzigartigen Ort kam und in diesen Riss eindrang, empfand ich eine Erregung, der ich mich kaum wehren konnte. Ich war allein, sehr jung und kaum gewöhnt an ein solches Spektakel. Diese jähen Felsen, diese angehäuften Blöcke davor lösten Vorstellungen von Zerstörung und Ruinen aus. Diese tiefe Einsamkeit wurde nur von Raben gestört, die in diesen Felsen nisteten und die in Angst um ihre Jungen eine Front gegen mich machten, wobei sie hässliche Krächzlaute ausstiessen, welche das Echo vertausendfachten.“
Lenin und de Saussure, Ella Maillart und Alexandra David-Néel, Voltaire und Rousseau, der fast Everest-Erstbesteiger Raymond Lambert: Sie alle fanden Aufnahme im 328-seitigen Lexikon. Auch Mary Shelley ist drin mit ihrem weltberühmt gewordenen Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“. Allerdings nicht unter dem Stichwort „Shelley“, sondern unter „Frankenstein“. Leider gibt es keinen Index, der das neue Salève-Buch von Dominique Ernst detailreich erschliesst. So findet man den Fakt, dass die Asche des in Genf gestorbenen Schriftstellers Robert Musil auf dem Salève verstreut wurde, nur unter „Fragments de littérature“ und nicht auch unter „Musil, Robert“.
Aber wir wollen den Hinweis auf dieses neue Salève-Werk nicht mit einer Kritik beenden. Sondern mit dem, was Lenin seiner Mutter schrieb: «La plus belle promenade de mon séjour a été sur le Salève. En bas il y a la mer de brouillard; partout dans Genève, il fait sombre et sur la montagne il y a un soleil magnifique; de la neige; des petits traîneaux, une bonne journée d’hiver russe.»
Dominique Ernst: Le Salève de A à Z. Dictionnaire d’une montagne modeste et géniale. Éditions Slatkine, Genève 2021, Fr. 33.-