Frankenstein, Schweizer von Geburt, war auch ein wilder Bergsteiger, muss man annehmen, da der moderne Prometheus in einer Gewitternacht den Salève erklettert, den traditionellen Trainingsberg der Genfer Kletterelite. Zum «neuen Menschen» wurde auch ein Vorgänger namens Francisco (sic!) auf einer nächtlichen Salèvetour.
„Das waren die letzten Augenblicke meines Lebens, in denen ich ein Gefühl von Glück erlebte. Wir fuhren schnell dahin; die Sonne war heiβ, aber wir schützten uns vor ihren Strahlen durch eine Art Baldachin, während wir die schöne Szenerie genossen – manchmal auf der einen Seite des Sees, wo wir den Mont Salève, die lieblichen Ufer von Montalègre und in der Ferne, alles überragend, den schönen Montblanc und die Spitzen all der schneebedeckten Berge sahen, die vergebens versuchten, es ihm gleichzutun –.“
Als vor ziemlich genau 200 Jahren – der 16. Juni wird allgemein als Beginn angenommen – eine Autorin den Roman erfand, aus dem die obigen Zeilen stammen (im 22. von 24 Kapiteln), hätte man den Baldachin gut gebrauchen können. Aber nicht als Schutz vor Sonnenstrahlen, sondern vor Regenschauern. Der Sommer 1816 ging als einer der nassesten in die Geschichte ein. Und ist indirekt für ein bekanntes Werk der Weltliteratur verantwortlich: „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“. Mary Shelley begann den Roman zu schreiben, als sie sich mit ihrem Ehemann, dem Poeten Percy Bysshe Shelley, in Genf aufhielt, wo sie den skandalträchtigen Dichter Lord Byron trafen. Dieser mietete die Villa Diodati in der Nähe der Stadt, und weil das Wetter eben so regnerisch war, erfanden die Vier – John William Polidori, Begleitarzt von Byron, war auch dabei – am Kamin Gespenstergeschichten. Diejenige von Mary ist Stoff für Theater und Filme geworden.
Einer der Orte, in denen Frankenstein sein Unwesen treibt, ist der Salève, der an der Stadtgrenze, aber schon in Frankreich liegende Hausberg von Genf. „Ich wollte den Teufel zuerst verfolgen, aber es wäre umsonst gewesen, denn beim nächsten Blitz sah ich ihn zwischen den Felsen des nahezu senkrechten Aufstiegs zum Salève hängen, einem Berg, der das Plainpalais nach Süden abgrenzt. Bald darauf hatte er den Gipfel erreicht und verschwand.“ Wer nun die Geschichte des Salève näher kennenlernen möchte, seine berühmten Leute, die Zahnrad- und Seilbahnen, die Kletterer (von dort stammt das Wort „varapper“, was klettern heisst) und die Schlittler, sollte zum hübsch gemachten Buch von Dominique Ernst greifen: „Le Salève – des histoires et des hommes“.
Einer dieser Menschen war Christian August Fischer, vielgereister Schriftsteller und Professor der Kulturgeschichte aus Leipzig. Er hielt sich ein Jahr lang in Genf auf, und es gefiel ihm dort so gut, dass er den poetischen Bericht „Ueber Genf und den Genfer-See“ verfasste, der 1796 in Berlin herauskam. „Zu jeder Tageszeit wird es Ihnen hier gefallen“, lässt er eine seiner Figuren erzählen, „aber Abends war es immer am schönsten. Auf dem entfernten Ende des Sees schwebte noch Licht und Glanz, indeß die Dämmerung schon aus der nähern Hälfte emporstieg. Allmählich schwand auch der glänzende Strich in düstere Schatten, aber hoch in den Lüften glühte noch jenseits des Ufers die majestätische Alpenwelt.“ In einer mondhellen, vom Gesang der Nachtigallen erfüllten Nacht machen sich Fischers Helden auf den Salève, und als sie oben sind, bricht der Tag an: „Da lag See und Fluß, Stadt und Flur, Gebirg und Thal; Genf im Mittelpunkte von Frankreich, Savoyen und der Schweiz; der See klein, wie ein Teich; Arve und Rhone, wie Bäche; eine lebendige Landkarte unter ihren Füßen; nur die Alpen groß und erhaben, Kette an Kette, und über allen der Montblanc.“ Und dann lässt Fischer seinen Francisco sagen: „Ich bin ein neuer Mensch!“ Also, was zögern wir noch – bei diesem verheissungsvollen Wetterbericht?
Dominique Ernst: Le Salève – des histoires et des hommes. Éditions Slatkine, Genève 2015, Fr. 28.-
Folgende Ausstellungen erfrischen uns im Sommer 2016:
„Frankenstein: Créé des ténèbres“ in der Fondation Martin Bodmer in Cologny bei Genève (bis zum 9. August) und
„1816-1820. Byron is back“ im Château de Chillon (bis zum 21. August).
Als Lektüre für die Reise: „Frankenstein“ von Mary Shelley. Mais bien-sûr!