Leichtigkeit

Wenn mit den Blättern von den Bäumen endgültig auch die Farben gefallen sind und die kahlen Äste grau in den grauen Hochnebelhimmel ragen, dann zehre ich so manches Mal von der Erinnerung an vergangene Leichtigkeit. Zum Beispiel an einen Sommertag, an dem alles Spiel und alles perfekt war.

Damals stiegen wir mit dem ersten Tageslicht kurz ein Tal entlang, dann nach links abzweigend, stille, da bereits verlassene Alpweiden empor. Eine blockige Rinne brachte uns in die Scharte am Beginn des Nordgrates, auf der sich der Blick in die ostseitige Tiefe auftat, und auf der uns die Sonne begrüsste. Nun ging es an grossen Rissen über eine erste Stufe und dann fast beliebig steigend oder verspielt kletternd weiter, mal im Licht, mal im Schatten, stets am Fels. Zwei Stunden nach unserem Aufbruch standen wir am Gipfel des Kleinen Widdersteins, angesichts einer weiten Aussicht ins morgendliche Alpenvorland auf der einen, und schroffer Nah- und Tiefblicke auf der anderen Seite. Der Weiterweg windet sich ziemlich herum, hinab in eine Scharte, hinüber in die Nordflanke, hinauf auf den Südgipfel und über eine steile Rippe wieder hinab ins grasige Karlstor.

Tor ist der treffende Ausdruck für diesen Ort. Nach Norden und Süden streben Felspfeiler empor, nach Osten und Westen sinken Geröllkare ins Tal, umgekehrt liegt der Torbogen im Bergleib. Mit Schwung kamen wir seinen nördlichen Pfeiler herab, durchliefen sein Bogenrund ohne zu halten, und rollten im Süden noch ein ganzes Stück wieder hinauf, ehe wir die Rucksäcke absetzten. Wir zogen die Klettergurte an, blickten aber etwas unschlüssig auf das Kommende, wägten und beschlossen dann, das Seil im Rucksack zu lassen. Wer will schon steigen, stehen, warten und steigen, stehen, warten, wenn der Fluss der Bewegung zu fliessen drängt und kein Grund dazu besteht, einen Anker zu werfen. Der Fels in den folgenden Verschneidungen fühlte sich an wie rauer Samt und trug uns leicht, als wären wir Luftwesen in die Höhe. Nach einem plattigen Rücken in Pfeilermitte steilte sich das Gelände nochmals auf. Braungraue Kanten aneinander gelehnter Platten, bildeten Orgelpfeifenartige Strukturen, an denen wir mal neben, mal übereinander kletterten, mal miteinander redend, mal still, jeder seinem Spiel vertrauend, das viel zu schnell zu Ende war.

Über den mit grossen Blöcken bedeckten Rücken des horizontalen Stückes im Ostgrat, kamen wir zu einer kleinsplittrigen Scharte, die wir schleichend durchquerten, und in der ich es war, der den einzigen Stein des Tages lostrat. Dann aber wurde der Fels wieder fest und der Grat steilte auf. Nahe dem Abbruch zur Nordwand segelten wir steigend, gleitend und wie in gutem Aufwind höher und dem Gipfel näher, den wir jederzeit hinter dem nächsten Absatz erwarteten. Doch dann stoppte ich überrascht vor einer Scharte, einem Einriss, gut zehn Meter tief. Wie eine Erinnerung an die Erdenschwere tauchte der Begriff „Seil“ in meinem Kopf auf. Verschwunden schienen die Flügel, die mich eben noch getragen, und die mir doch wieder wuchsen, als ich versuchsweise auf einen Absatz hinab kletterte. Bald konnte ich gegen die jenseitige Wand spreizen und las, schliesslich unten stehend, Aikko die Gedenktafel vor, die hier, so weit weg jeder Aufmerksamkeit, am Fels angebracht ist; während er, vom Kletterer, der in den Sechzigerjahren vom Blitz erschlagen wurde erfahrend, mich oben herum überholte, indem er mit weitem Schritt über den Einschnitt spreizte und an der von horizontalen Rissen durchzogenen Wand nach links um die Ecke verschwand. Ich folgte ihm auf die Gratfortsetzung, auf der nur wenig später, plötzlich ein Mann vor uns sass, etwas weiter zwei junge Frauen auftauchten und Dohlen um rastende Berggänger kreisten, sich wenige Meter neben ihnen auf eine noch freie Zinne setzten, etwas fallengelassenes aufpickten und wieder über die Köpfe in die Höhe schossen.

Auch wir landeten am Gipfel des Grossen Widdersteins, setzten uns auf ein noch freies Plätzchen, assen, was Essbares im Rucksack war und unterhielten uns über die Berge, die man sah, und über ihre Wege. Ein unerschöpfliches Thema, ein nicht enden wollender Stoff, Ahnung vieler noch möglicher Tage voll Leichtigkeit, mit der wir den Abstieg verplauderten, und die noch monateweit bis in den grauen Hochnebel reicht.

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