Die heiligen Wasser, zur Bewässerung des kargen Bodens herangeführt seit Jahrhunderten durch Suonen (Oberwallis) oder Bisses (Unterwallis) gehören zum Wallis wie Matterhorn und Fendant – wer sie erwandert, sollte vom letzeren nicht zuviel geniessen. Ein neuer Tagungsband erschliesst die Kultur der Bisses umfassend und sogar in Stereofotografie – zu geniessen in 3D mit oder ohne Walliser Weisswein.
„Tief unter ihm gischtet der Fluß in der Felsenschlucht, die altersgrauen Lärchen neigen sich darüber und schwanken im Luftzug, Bergnelken hangen über die Ränder und verzieren den Abgrund mit blühendem Rot.
Nur das Rauschen der Glotter und das gleichförmige Ticktack der Merkhämmer einer großen Wasserleitung, die in entlegener Höhe dahinführt, unterbrechen die Stille des Thales.
Die Leitung heißt das „heilige Wasser“ und befruchtet die sonnenglühenden Weingärten, die Aecker und Wiesen Hospels und der fünf Dörfer, die um den Flecken liegen.“
Ein kurzer Abschnitt von Seite 3 des knapp vierthunderseitigen Bestsellers von Jakob Christoph Heer (1859-1925): „An heiligen Wassern. Roman aus dem schweizerischen Hochgebirge“, 1898 erstmals erschienen, zweimal verfilmt, im Oktober 2011 neu herausgegeben im Salzwasser-Verlag. Die Geschichte spielt im fiktiven Walliser Dorf Hospel – welches Heer zum Vorbild nahm, ist nebensächlich. Die Bewässerungskanäle gehören zum Wallis wie Fendant, Matterhorn und FC Sion. Vom Goms bis hinunter ins Rhoneknie finden sich immer wieder Leitungen, welche das kostbare Nass von den Gletscherbächen auf die trocken Matten brachten und bringen. Wer diesen Wasserwegen entlang wandert – im Oberwallis nennt man sie Suonen, im Unterwallis Bisses – kommt Schritt für Schritt ins Staunen und Schwärmen, weniger ins Schwitzen. Manchmal lassen sie auch das Adrenalin in den Adern der freiwilligen Begeher fliessen. Wenn wir da ein Kruzifix sehen und dort eine Totentafel entdecken, dann wird uns bewusst, dass wir mit den Bisses eine ganz andere Art von Weg unter den Füssen haben.
Zum Beispiel bei der Bisse du Rho und der Grand Bisse de Lens auf der Südseite des Rawil. Schilder warnen vor dem Begehen. Zu Recht: Wem schwindlig wird, sollte sich tatsächlich nicht auf die beiden Wege vorwagen. Die im 14. Jahrhundert gebaute Bisse du Rho ist insgesamt 7 Kilometer lang, verläuft oft in senkrechtem, ja überhängendem Gelände und quert zahlreiche kleine Schluchten. Ein grandioses Bauwerk. Das wird man von den vielen Gebäuden auf der Sonnenterrasse von Crans, wohin diese Suone ihr heiliges Wasser brachte, nicht sagen können. Die Grand Bisse de Lens, die sich unterhalb der Suone von Rho durch ebenso eindrückliches Steilgelände zieht, liess der Prior Jean von Lens in den Jahren 1448 bis 1450 erbauen. Sie ist 13 km lang und bewässert immer noch die Wiesen von Icogne, Lens und Chermignon. Die Fassung liegt in der tiefen Schlucht der Liène, unweit der modernen Brücke des Rawil-Sondierstollens. Er verursachte jedoch Risse in der Staumauer des Lac de Tseuzier weiter oben, so dass die geplante Autobahn zwischen dem Wallis und dem Berner Oberland ins Wasser fiel. Nicht jeder Weg muss ja gebaut werden. Hätten allerdings die Bewohner des Wallis nicht ihre Wasserwege der Natur abgewonnen, um wie viel ärmer wäre dann das Wirtschaften und Leben, das Wandern und Sich-Wundern im Rhonetal und seinen Seitentälern.
Im September 2010 fand in Sitten ein internationales Kolloquium zu den Bisses statt. Zu den einheimischen, aber auch zu anderen, zum Beispiel im benachbarten Aostatal, im Val Müstair, noch weiter weg. Spannend zu sehen und lesen, wie uralt und verbreitet die Bewässerungstechniken sind. 560 Seiten dick ist das Buch, das nun zu dieser Tagung herausgekommen ist. Man wird vielleicht nicht alles lesen (und verstehen). Aber dass es in Botyre Ayent ob Sion ab nächstem Jahr ein Suonenmuseum gibt, wird man mitbekommen (mehr dazu unter www.musee-des-bisses.ch). Und dass die Suonen des Wallis – zu Recht – ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen werden sollen, ebenfalls.
Was dieses Buch zudem so gewichtig macht, sind die über 350 Illustrationen. Genial diejenigen von Charles Paris aus den 1930er Jahren; er nahm viele Fotos mit der Stereokamera auf, und so sind sie auch gedruckt. Eine beigelegte 3D-Brille macht das Betrachten zum Erlebnis – man meint, auf einem Holzsteg über dem Abgrund zu stehen, man glaubt, das heilige Wasser fliessen zu sehen.
Les Bisses – économie, société, patrimoine. Actes du colloque international, 2-5 septembre 2010. Les Annales valaisannes 2010-2011, Société d’histore du Valais romand, Martigny 2001; www.shvr.ch. Fr. 66.-
Liebe Regula,
hier das Buch von dem ich dir erzählt habe.