„Grüss Gott“ hiess es von allen Seiten. Kein Zweifel: wir hielten uns in der italienischen Provinz Südtirol auf, wo das Volk gottergeben und freundlich ist. © Annette Frommherz
Im Eingang des Hotels hatten sie dem Jesus einen Lorbeerzweig in den Nacken gelegt. Auch über dem Bett hing er, ans Kreuz genagelt. Ich erlöste ihn und legte ihn behutsam in die Schublade des Nachttischchens. Unseren Sünden sollte er nicht zuschauen müssen. Dem Heiland begegneten wir auf unseren Skitouren immer wieder. Meist hing er im Freien an einem Kreuz, freilich überdacht, damit es nicht auf sein Haupt schneie.
Am Dreiländereck Italien Österreich Schweiz liegt der Reschensee, aus dem der alte Kirchturm von Graun ragt, nachdem vor über sechzig Jahren der alte Dorfkern geflutet wurde und sich die Bewohner ohne Pardon weiter oben neu ansiedeln mussten.
Ins Langtauferertal zweigt man vom Vinschgautal ab, und uns war, als führen wir in eine andere Welt. Ein paar Häuser, irgendwann hingewürfelt, nur die Kirche ganz bewusst in die Mitte gesetzt. Ein von der Zivilisation abgeschiedenes Tal mit steilen Lärchenhängen. Eine Gegend, wo die wenigen Einwohner gelernt haben, dem Fortschritt und der rauen Umgebung zu trotzen.
Überall liessen sie Gott grüssen, die freundlichen Menschen, aber wir trafen ihn nirgends. Dennoch hoffte ich, er möge uns beschützen in der einsamen weissen Welt da oben. Wir erinnerten uns an die Eigenverantwortung, prüften vorsichtshalber nochmals das LVS und packten Sonde und Schaufel ein.
Tags zuvor waren wir auf den Äusseren Nockenkopf getourt, um vom Gipfel aus einen Blick hinüber in die Schweiz zu erhaschen. Nun reizte uns der weisse Weg zum Glockhauser, ein fescher Dreitausender. Gleich vor dem Gasthaus konnten wir die Skier schnallen. Der Tag hatte uns fast sehnsüchtig erwartet und die Sonne mochte sich daran erinnern, dass ich ein Sonnenkind war. Herrlich knirschte der Schnee unter den Brettern, als wir nach der Melager Alm bergwärts spurten. In der Gleichmässigkeit der Schritte fiel ich bald in ein dynamisches Atmen, das mir Gelegenheit bot, in meinen Gedanken zu versinken.
Während wir uns immer höher und näher zum Gipfel bewegten, folgten wir einer freien Eingebung, die uns die zehn Gebote etwas anders und ohne ernstzunehmende Dringlichkeit aufsetzen liess.
Die zehn Gebote für Skitouren:
1. Respektiere die Gesetze der Natur, auch wenn es schwer fällt.
2. Vertraue deinem Partner, aber nicht blind.
3. Vergiss nicht, deine Ohren einzucremen.
4. Nimm Rücksicht auf deine Liebste und schaue, dass es ihr gefällt.
5. Schätze dich glücklich, die Natur erleben zu dürfen – solange sie noch da ist.
6. Teile deine Kräfte ein; man weiss nie, ob der Partner noch einen weiteren Gipfel im Visier hat.
7. Vergiss nie den Gipfelkuss!
8. Sei rechtzeitig zum Kuchenbüffet im Hotel zurück.
9. Lobe den Tag nicht vor dem Abend – oder den Hang nicht vor der Abfahrt.
10. Ehre den Schnee, ehe er schmilzt.
Auf dem Glockhauser fegte der Wind streng um unsere Häupter. Wir richteten den Blick hinüber zum Weisskugel, zum Bärenbartkogel und zum Grossen Schafkopf und konnten uns nicht entscheiden, welcher denn der schönste dieser Berge sei.
Die Natur hatte all die Tage ein glitzernes Mäntelchen über die Matten und Hänge gelegt und uns die schönsten Tiefschneeabfahrten geschenkt. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit – in Ewigkeit, so hofften wir. Bevor wir über den Ofenpass zurück in die kleine Schweiz fuhren, versäumte ich nicht, den Jesus wieder an seinen Platz zu hängen.
Ein wunderschöner Text. Vielen Dank, liebe Annette.
Zwischend den Zeilen kann man deine Haltung (und auch meine) zum Religiösen ziemlich klar erkennen. Trotzdem gehst du achtsam und respektvoll mit dem Thema um. Das wiederum sagt Wesentliches über dich selber aus.
Lieben Gruss
Peter
… vielleicht hat euch der Christus in der Schublade während der ganzen Zeit begleitet, weil ihr ihn für einige Tage von seinen Qualen, die er hängend erdulden muss, erlöst habt.
Dein Bericht lädt ein, den Rucksack zu packen, die Felle aufzuziehen und den Zug Richtung Osten zu besteigen. Herzlich. Christa