Berge in der Toskana, gibt’s das? Und wie! Die Apuanischen Alpen hoch über den Stränden von Massa und Carrara, weiss vom Marmorschutt der historischen Steinbrüche, sind ein wunderbares und (noch) fast unbekanntes Wander- und Klettergebiet.
»Aaauuunc«, hallt es den steinigen Hang hinab. »Aaauunnc«, quittieren die Mollatori das Kommando des Capolizza und lockern die schweren Stahlseile, die sie um ein Bündel von dicken Kastanienholzscheiten gewickelt haben. Langsam rutscht das 17 Tonnen schwere Steinpaket über eingeseifte Holzbalken talwärts. Dann ruft der Capolizza »Forrrt«, und die Mollatori ziehen die Seile wieder fest, um die Fracht zu bremsen.
Jeweils Mitte Juli führt die Compagnia di Lizza »Vallata Alta Tambura« in Resceto die traditionelle Lizzatura vor. Bis weit ins 20. Jahrhundert war sie die Technik, mit denen die Marmorblöcke vom Steinbruch die steilen Hänge hinab auf den Talboden »geschlittelt« wurden. In Resceto, wo etliche solcher Vie di lizza endeten, arbeiteten viele Männer als Lizzatori. Man ist bis heute auf diese Tradition stolz, und die Demonstration endet in einem ausgelassenen Dorffest.
Dabei ist die Lizzatura eine sehr gefährliche, anspruchsvolle Arbeit. Zwischen dem Ausbruch des Steins aus dem Berg und seiner Verarbeitung oder Verschiffung bildete sie während Jahrhunderten das entscheidende Glied: Wie sonst hätten die schweren Marmorblöcke die Ateliers, Sägereien und Schiffe heil erreichen können? Eine Zeit lang ließ man die Blöcke einfach den Hang hinunterpurzeln, aber das war zu verlustreich: Manch edler Brocken ging dabei in die Brüche.
Ein Ausschnitt aus dem Kapitel „Lizzatura oder die Kunst, Marmorblöcke zu schlitteln“. Zu finden im Wanderbuch „Marmor, Meer und Maultierpfade“ von Pepo Hofstetter. Es schlägt eine wenig bekannte Seite Italiens auf: die Apuanischen Alpen.
Wie ein stark zerklüftetes Marmorriff erheben sich die Alpi Apuane im Norden der Toskana: ein 60 Kilometer langes und bis 20 Kilometer breites Gebirge, begrenzt vom Tyrrhenischen Meer und vom Apennin. Zwischen dem Monte Altissimo (1589 m), wo sich Michelangelo die schönsten Marmorblöcke gleich selbst aussuchte, um sie in Skulpturen zu verwandeln, und dem Badeort Forte dei Marmi liegen nur 11 Kilometer – und doch viel mehr. Unten die im Sommer überfüllten Strände der Versilia, oben jähe Grashänge und scharfe Kalkgrate, labyrinthische Buchenwälder und weiss wie Schnee gleissende Marmorsteinbrüche. Die 380 Marmorbrüche, sogenannte cave, geben 10000 Leuten harte Arbeit. Jährlich wird mehr als eine Million Tonnen des kostbaren Gesteins gefördert, wovon 70 Prozent in den Export geht. Aber noch sind die Zinnen der Apuanischen Alpen nicht in Schräglage geraten wie der Turm von Pisa. Und obwohl der Berg zuweilen dröhnt vom Lärm der Bagger und Sägen, ruft er unüberhörbar die Wanderer.
Quer durch die Alpi Apuane findet sich ein Netz von markierten und nummerierten Wanderwegen, welche die Hütten des Club Alpino Italiano und die Gaststätten der Bergdörfer miteinander verbinden. All das erlaubt es, die alpine Toskana hautnah und auf Tages- und Mehrtageswanderungen zu erleben – wenn man Pepo Hofstetters Führer dabei hat. Ein Wander-, Geschichts-, Bilder- und Gourmetbuch in einem. Man könnte es einfach auch nur lesen in einem Liegestuhl in Marina di Carrara.
Pepo Hofstetter: Marmor, Meer und Maultierpfade. Die Apuanischen Alpen – Wandern in einer unbekannten Toskana. Rotpunktverlag, Reihe Naturpunkt, Zürich 2010, Fr. 44.-