Kurze Begegnung mit einer Kletterlegende. Mit dem Erstbegeher von «Supertramp», «Kein Wasser, kein Mond» und weiteren Marksteinen des alpinen Sportkletterns beim Bier.
Die Beiz hinter dem Churer Bahnhof heisst «Frohsinn», ein neuer «In-Beizer» habe das Stübli kürzlich übernommen, sagt Martin Scheel. Ein alter Quartierspunten, einst gemütlich und verraucht und die Innenausstattung etwas verpfuscht, bis auf den alten Parkettboden. Aber wir sprechen ja nicht über Böden, sondern über Abheben. Das heisst, zuerst über die Lehrzeit, zufällig haben wir den gleichen Beruf mit dem komplizierten Namen gelernt: Fernmelde- und Elektronikapparatemonteur. Einfach mit etwa zwanzig Jahren Abstand. Ein Jahr habe er kletterbedingt zwar gefehlt, lese ich auf der Website von Martins Werbeagentur azoom, danach «keinen Tag auf dem Beruf gearbeitet». Er war ja praktisch schon ein Profiketterer, damals Ende der Siebziger, einer der jungen Wilden, die in WGs in besetzten Häusern wohnten, im legendären Kletterclub Üetliberg KCÜ an den Nagelfluhfelsen auf dem Zürcher Hausberg trainierten, wenn nicht gerade eine Demo angesagt war. Auch da Parallelen, ich kam gerade rechtzeitig zur 68er Bewegung nach Zürich und kletterte auch gelegentlich auf dem Üetli. Aber vor allem im Bockmattli; zwanzig Jahre vor Scheel und Konsorten kletterten wir da alles ab, was es schon gab, noch mit kurzen Seilen, harten Schuhen, Schlaghaken und Leiterli. Gern wäre ich zwanzig Jahre später geboren, aber ich weiss, den Wagemut und die Kletterstärke Martins hätte ich auch dann nicht gebracht. Auch im Rätikon, einem unserer beliebten Tummelplätze, hat er phantastische neue Wege gefunden.
Später hörte er dann beinahe auf zu klettern und hob auf andere Weise ab, vom Boden in die Luft. Wurde Gleitschirmkonstrukteur, Test- und Wettkampfpilot. Ab 1996 ist er Coach, Fotograf und Trainer der Schweizer Gleitschirm-Nationalmannschaft. Auf Umwegen über den Thurgau und das Appenzellerland kam er nach Chur, wo es ihm gefällt. Die Berge nah fürs Gleitschirmen und Skitouren, Felsen zum Klettern rundum, denn er klettert wieder, und auch eine Kletterhalle. Die Entwicklung zum Plaisirklettern beobachet der begnadete Freikletterer skeptisch, und dass man vor wenigen Jahren seinen «Supertramp» in der Bockmattli-Nordwand mit Bohrhaken entschärft hat, bringt ihn noch immer auf die Palme. Gerade hat er wieder einen Leserbrief an die «Alpen» geschickt. Der Vorgang hat ja eine Diskussion über das Sanieren von alpinhistorisch wichtigen Routen entfacht, in die er sich eingemischt hat, und die noch nicht abgeschlossen ist. Gibt es ein Copyright auf Routen? Schliesslich wurden sie ohne zu fragen auf öffentlichem oder privatem Grund eingerichtet. «Supertramp» gehört wie das ganze Bockmattli juristisch der Genossame, den Alpbesitzern. Wer darf da bestimmen, was in den Wänden geschieht? Der Jurist Gregor Benisowitsch, Schells Begleiter bei der Erstbegehung, wüsste da vielleicht Antworten.
Es interessiert wohl mehr der sportliche Aspekt. Soll man aus einer einstmals so anspruchsvollen Route einen Plaisirsteig für kletternde Massen machen? Oder müssen sich die Nachsteiger denselben Gefahren von weiten Stürzen aussetzen wie die Erstbegeher? Hat die junge Generation auch ein Anrecht auf den «Kick», hoch über den letzten Haken zu klettern und einen Keil zu legen? Nimmt man ihnen was weg?
Oder, mit etwas mehr Distanz betrachtet: Ist es alpinhistorisch sinnvoll, gewisse bedeutende Routen in ihrem «Urzustand» zu belassen, aus Respekt vor den Leistungen der Erstbegeher. Eine Route wäre demnach ein Kunstwerk, so etwa wie die Sprayereien eines Harald Nägeli auf öffentlichem Grund. Konsequenterweise müsste man dann auch einen Salbitschijen Südgrat ausnageln, den die Erstbegeher 1935 mit zwei Haken meisterten. Nur wenige würden dieses Kunstwerk noch geniessen können.
Nun, junge Kletterer haben den Supertramp wieder «rücksaniert», nach Martins Originaltopos neue Haken gesetzt, aber nicht mehr. Und ich darf Martin mitteilen, dass ich dieses eine seiner Meisterstücke einst im Urzustand wenigsten nachsteigen durfte.
Und nun muss er ja schon zum Nachtessen, das er wegen uns verschoben hat. Er ist verheiratet, Vater von zwei Kindern, die Tochter studiert Politologie und sitzt schon im Churer Gemeinderat. Sie leistet politische Arbeit, offensichtlich mit andern Mitteln als damals die kletternden Hausbesetzer der Zürcher 80er Bewegung.
Website von Martin Scheels Werbeagentur azoom