Mein Weg als Bergsteiger

Weihnacht in den Bergen – auch davon erzählt Ernst Reiss in seinem autobiografischen Buch, einem neu aufgelegten Klassiker der Schweizer Alpinliteratur. Höchst spannend und dramatisch aber auch der Bericht über die Erstbesteigung des Lhotse mit Fritz Luchsinger. Es war der erste und höchste Achttausender, den Schweizer erstbestiegen. Die Neuausgabe ist eine Hommage an den 2010 verstorbenen Himalayapionier.

„Die Uhr zeigt zwei Stunden vor Mitternacht. Wir stehen beim Gipfelsignal des 3418 Meter hohen Piz Kesch. Kein Lüftchen haucht über den höchsten Davoser Bergriesen. In seltener Reinheit steht die zitronengelbe Mondscheibe am nachtschwarzen Himmel über einem Meer von Schatten und Licht reflektierenden Bergspitzen. Unsere nachttrunkenen Augen schweifen von den zitternden Glitzerlichtlein der menschlichen Behausungen hinauf und hinüber vom Ortler bis zum Finsteraarhorn. Der harzige Tannenduft eines brennenden Nadelzweiges über dem eingegrabenen, flackernden Kerzlein streicht um den Steinmann.“

So schildert Ernst Reiss den 25. Dezember 1939 auf dem Piz Kesch in seinem Bericht  „Weihnachtliche Bergfahrten“, erstmals abgedruckt in der SAC-Zeitschrift „Die Alpen“ von 1947, dann aufgenommen in seinem Buch „Mein Weg als Bergsteiger“. Das Buch kam 1959 erstmals und 1962 in zweiter, ergänzter Auflage heraus – und liegt nun wieder neu aufgelegt vor. Der bekannte Schriftsteller und Bergsteiger Emil Zopfi hat es neu herausgegeben und mit einer ganz starken Einführung versehen. Schön, dass es diesen Klassiker der Schweizer (Berg-)Literatur wieder zu lesen gibt. Das passende Weihnachtsgeschenk für Bergsteiger und solche, die um diese Zeit lieber in der warmen Stube hocken statt hoch oben auf kalten Zinnen.

„Du Fritz, jetzt sind wir wirklich oben!“ Das sagte Ernst Reiss am 18. Mai 1956 um 15 Uhr seinem Seilgefährten Fritz Luchsinger auf dem Gipfel des Lhotse (8516 m). Die beiden Schweizer waren die Ersten auf dem vierhöchsten Berg der Erde. Diese Erstbesteigung machte Reiss (1920-2010) weltweit bekannt. Doch schon vorher hatte der gebürtige Davoser und dann in Basel eingebürgerte Alpinist mit gewagten Erstbegehungen in den Alpen von sich reden gemacht, wie zum Beispiel mit Direktrouten in den Nordwänden von Gletscherhorn und Gspaltenhorn in den Berner Alpen. Dem Flugzeugmechaniker und späteren Textilkaufmann (unter anderem für die einst berühmte Bergbekleidungsmarke „Protector“) gelangen insgesamt 22 Erstbesteigungen und -begehungen auf drei Kontinenten. Die Bünder Berge blieben ihm aber immer ganz nah – weihnächtliche Fahrten sind eben ganz besonders.

„Verstanklahorn, 25./26. Dezember 1943.
In der Ecke tickt die Pendule, bewegt von den langsam sinkenden Gewichten. Stille herrscht in dem heimeligen Bündnerstübli des gastfreundlichen Vereina-Berghauses. Alle Blicke sind auf das letzte Kerzenflackerlicht am obersten Aste einer knorrigen kleinen Bergföhre gerichtet. Die frohen Weihnachtslieder sind verstummt. Das Licht erstirbt. Stille – jetzt schlägt sich mein jüngerer Bruder mit beiden Händen auf die Knie; wir wollen schlafen gehen, dann sind wir morgen frisch zur grossen Fahrt.“

Ernst Reiss: Mein Weg als Bergsteiger. Herausgegeben und Einführung von Emil Zopfi. AS Verlag, Zürich 2013, Fr. 29.90.

Frohe Weihnachten, unten und oben!

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