Schöner Fels an einem seltsamen Ort. Oder: Wo man an einem sonnigen Sommertag auch noch klettern kann.
Es ist ein eigenartiger Ort, an dem wir uns zum Klettern aufmachen an diesem heissen Augusttag, an dem man auch eine grosse Nordwand anpacken könnte. Melchsee-Frutt war einst eine Idylle, ein Bergsee, eingebettet in Alpweiden, in der Ferne die weisse Kuppe des Titlis und die bizarre Kette der Felsberge vom Paffenhut bis zum Tellistock. Auf der Strasse, auf der wir uns in einer Schar von betagten Wanderern bewegen, wird mit Pneukranen und Geschrei gerade ein mächtiges Stahlgerüst aufgerichtet, das zu einem «Panoramalift» werden soll. Staub wirbelt, Baumaschinen dröhnen, oben auf der Krete spiegelt sich die Sonne in den leeren Fenstern eines Hotel- oder Zweitwohnungsneubaus, der gut nach Zürich West passen würde. Ferienwohnungen, falsche Chalets, Supermarkt, ein Kiosk unter einer Plastikkuppel, ein putziges Bähnchen für Kinder, Fischerboote auf dem See und was sonst noch alles für Geld zu erleben ist. Melchsee-Frutt scheint mir ein Lehrstück, wie der Tourismus seine eigene Grundlage zerstört, eine Berglandschaft von grosser Ruhe und Poesie. Tempi passati. Vielleicht war das ja schon vorbei, als wir vor Jahrzehnten vom Hasliberg herüberwanderten und dabei ins Feuer von Minenwerfern gerieten, die in eine Geröllhalde ballerten. Wir schrien, aber die Truppe hatte wohl Gehörschutzpfropfen eingesetzt. Nun haben hier nicht mehr Armeeoffiziere das Kommando, sondern offensichtlich Investoren, woher auch immer.
Hier also klettern? Die Wand sieht von weitem aus wie ein Bruchhaufen, ein Wanderweg zieht sich darunter hin, eine Tafel bittet die «Lieben Kletterinnen und Kletterer», Seile und Material nicht auf dem Weg zu deponieren, damit auch die Wandernden durchkommen. Am Sockel der Felsen reiht sich ein Metalltäfelchen ans andere mit dem Namen, der Länge und der Schwierigkeit der Routen. Grosse Tafeln künden den Sektor an. Klettern wie in der Halle also, und auch der unvermeidliche Klettersteig fehlt hier nicht. Die erste Seilschaft, der wir begegnen, ist eine Mutter mit zwei Töchtern im Kindergartenalter.
Unser Ziel ist Sektor 6, da gibt es ein paar schöne Routen in unserer Reichweite, der Fels ist gut, griffig und trittig, rau, horizontal geschichtet. Die Kletterei versöhnt uns bald mit dem seltsamen Ort. Neben uns ein Einheimischer, der zwei jungen Frauen das Klettern beibringt, die Eltern schauen zu. «Woher kommt ihr», fragt uns der Vater, und als wir «Zürich», sagen, stösst er ein «Overreckt!» aus.
So ist das halt hier, und dann reden wir über Kraftwerke, weil auch die beiden idyllischen Seen zu unseren Füssen zu einem Kraftwerksverbund gehören und der Mann in einem Kontrollzentrum der innerschweizerischen Stromnetze arbeitet. Da kann ich auch wieder mal meine Fachkenntnisse als Elektroingenieur anbringen, der auch mal mit Kontrollsystemen in der Energieversorgung zu tun hatte. Ein Tick der alten Männer, ich weiss, einst war man einen Kapazität, so meinte man, heute ist man nur noch ein Schwätzer und merkt es nicht.
Aber genug geschwatzt, ich will auch noch eine 6c versuchen, und fast gelingt sie mir, und hätte ich an der Crux die zwei kleinen Griffe gleich gefunden, hätte ich sie gar on-sight geschafft. Ja, hätte, und wäre und so weiter. Ich klettere dann auch noch eine Route hoch, die ein halber Wasserfall ist, man muss ja auch noch etwas Hochgebirgsgefühl hereinholen, aber dann wird es uns definitiv zu heiss. Wir wandern zurück, vorbei am Stahlgerüst, das noch immer am Boden liegt, umgeben von rufenden und gestikulierenden Arbeitern und Vorarbeitern, alles eingehüllt in eine Staubwolke. Wie wir von unserem einheimischen Antizürcher erfahren haben, soll der Lift die Pistenfahrer im Winter auf kleinen Hügel mit dem Züri-West-Hotel bringen – sie müssten sonst ihre Ski fünf Minuten hinauftragen. Und das kann man ja wohl niemandem zumuten.
Am Gondellift müssen wir zum Glück nicht Schlange stehen, gondeln gemütlich zu Tal, erhitzt und mit brennenden Händen.