Wahrscheinlich trug sie knöchellange Röcke, die legendäre Jemima Morrell, auf der ebenso legendären ersten organisierten Schweizerreise des noch legendäreren Thomas Cook. Sowohl im Originaltext wie auch auf ihren Spuren oder beides mit Vergnügen folgen kann, wer den Vorschlägen unseres Rezensenten folgt.
„Nach dem Frühstück begaben wir uns erneut in die Obhut eines Bergführers, von dessen deutscher Sprache wir wenig verstanden, der sich aber dennoch gut um die Damen zu kümmern wusste, als sie den unteren und gröβeren (er erstreckt sich über 300 Quadratkilometer) Gletscher erkundeten. Die erste Stunde stiegen wir durch Heufelder und vereinzelte Tannenplanzungen auf, dann nahmen wir einen schmalen Pfad, der in die Wand des Mättenbergs gehauen war. Die heiβe Sonne zeigte keine Gnade und tat ihr Bestes, uns zerschmelzen zu lassen, wenn sie schon den Gletscher nicht bezwingen konnte.“
Seit Jemima Morrell (1832-1909) mit ihren Reisegefährten am 7. Juli 1863 den Unteren Grindelwaldgletscher besucht hat, ist das scheinbar ewige Eis schon tüchtig abgeschmolzen. Was aber der Lektüre von Miss Jemimas Journal überhaupt keinen Abbruch tut. Eine so erfrischende, pointierte und manchmal auch bissige Lektüre habe ich in diesem Jahr selten gelesen. Ein weiteres Beispiel, diesmal vom 27. Juni 1863 beim nächtlichen Bezug des Hotels in Genf, nach der Anreise von Paris (mit Frühstück um fünf Uhr morgens): „Wir bewältigten die 140 Stufen zu unseren Zimmer und löschten froh Licht und Gedanken für die Nacht.“
Am 26. Juni 1863 war eine ungewöhnliche Reisegruppe aus sieben jungen Männern und Frauen, die sich in London zum Junior United Alpine Club zusammengeschlossen hatten, zu einer von Thomas Cook organisierten Tour durch die Schweiz gestartet. Newhaven, Paris, Genf, Chamonix (das zählte man damals grosszügig noch zu den Schweizer Alpen), Wallis, Gemmi, Interlaken, Kleine Scheidegg, Rigi, Luzern, Olten, Neuchâtel und wieder Paris und Newhaven waren die Stationen der dreiwöchigen, abenteuerlichen Pauschalreise mit Maultieren und Postkutschen, zu Fuss, mit der Eisenbahn und dem Dampfschiff. Die 31-jährige Jemima Morrell führte über diese „First Conducted Tour of Switzerland“ ein Tagebuch, das im Frühling 2014 zum ersten Mal auf Deutsch erschien, nachdem es 100 Jahre nach der Niederschrift durch Zufall entdeckt und dann veröffentlicht wurde.
Als Zusatzlektüre zu Miss Jemimas Journal empfiehlt sich unbedingt das fast dreimal so dicke Buch von Diccon Bewes: „Immer schön langsam. Eine Zeitreise durch die Schweiz auf den Spuren von Thomas Cook.“ Noch eine Spur länger als der deutsche Titel ist die englische Originalausgabe: „Slow Train to Switzerland: One Tour, Two Trips, 150 Years – And a World of Change Apart.“ Zusammen mit seiner Mutter hat sich der Engländer und Wahlschweizer Bewes auf die Spuren von Jemima begeben und darüber einen unterhaltsamen und lehrreichen Bericht geschrieben. Geschickt schildert er, was sich verändert hat – und was nicht. Da und dort baut er vielleicht eine Stufe zu viel ein, und wo er über die Anfänge des Skifahrens schreibt, kann er einen Sturz nicht vermeiden. Trotzdem: Ein schönes Buch über die Geschichte des Reisens, über die Schweiz und ihren Tourismus – und über eine Miss, die Gletscher besucht und das in ihrem Blog gleich festhält.
Jemima Morrell: Miss Jemimas Journal. Eine Reise durch die Alpen. Roger & Bernhard, Berlin 2014, Fr. 25.90.
Diccon Bewes: Immer schön langsam. Eine Zeitreise durch die Schweiz auf den Spuren von Thomas Cook. Malik Verlag, München 2014, Fr. 34.90.