Mit Tintin auf dem Gipfel

«Tintin au Tibet» von Hergé: Ob im Original, auf Deutsch oder gar auf Bärndütsch – immer eine Lektüre wert. Ein neues Buch über die Gipfelwelt des Comicszeichners und seine Beziehungen zur Schweiz ist es ebenfalls.

«Si das ächt Badwanne vom Evi?»
«Sicher nid, das Fröilein fahrt viu besser Ski!»

Nicht autorisierte, von Hand mit einem schwarzen Stift eingefügte Sprechblasen zu Sherpa Tharkey und Kapitän Haddock auf dem Titelbild von „Täntän z Tibet“, der 1989 beim Emmentaler Druck in Langnau publizierten berndeutschen Fassung von „Tintin au Tibet“. Georges Remi alias Hergé bezeichnete dieses stark persönlich gefärbte Abenteuer, darin Tintin seinen nach einem Flugzeugabsturz im Himalaya vermissten Freund Tschang sucht und findet, später als seine Lieblingsgeschichte. Im bärndütsche Comics knurrt der Hund Milou beim Anblick von grossen Spuren im Schnee, Tintin stellt die Frage „Schpure vo gruusigs Schneemönsch!?!“, doch Haddock stellt klar: „Jä, Seich!… Dasch d Fährte vo mene Bär! Mi weiss ja, dass die mängisch uf de Hingerscheiche ufrächt gö!“ Für alle Leser, die des Berndeutschen nicht ganz mächtig sind: „Quatsch! Das ist die Fährte eines Bären. Man weiss ja, dass diese manchmal aufrecht auf den Hinterbeinen gehen.“ Oder stammen die Abdrücke nicht doch vom Yeti?

Selber lesen! In welcher Sprache auch immer: Die 24 Comic-Alben um Tintin (alias Tim im Hochdeutschen) erschienen in rund 100 Sprachen; Tibet ist der 20. Band. Dramatische Szene auf Seite 40, Haddock ist beim Nachklettern ins Seil gestürzt, hängt nun hilflos unter einem Überhang, Tintin vermag ihn aber nicht hochzuziehen, Haddock ruft verzweifelt hinauf:

«Coupez la corde, c’est la seule solution!»
«Jamais! Nous nous sauverons ensemble ou nous périrons ensemble!»
«C’est malin, ce que vous dîtes là!… Mieux vaut une seule victime que deux, non?»

Ein Opfer statt deren zwei? Oder gar drei? Dieser Frage gehen die beiden Autoren des Kapitels „Tintin au Tibet. Hergé et son héros entre «cimes et abîmes»“ im Buch „Hergé au sommet“ nach. Als der Schaffer von Tintin seine Helden im fernen Tibet in der Vertikalen zappeln lässt, musste er sich zuhause in Belgien selbst eine solch existenzielle Frage stellen: seine Ehe mit Germaine opfern, um sich selbst und seine Geliebte Fanny zu retten. Im Comic befreit Tharkey seine Bergkameraden aus der misslichen Lage. Ein anderes hochspannendes Kapitel im erwähnten Buch ist mit „L’imaginaire helvétique d’Hergé“ überschrieben und befasst sich mit den Reisen von Georges Remi in die Schweiz – und wie sie ihre Spuren in seinem Werk hinterlassen haben. „Il y a de si jolies montagnes en Suisse. Et de si beaux lacs“ schrieb Hergé einem Freund. Mais oui, Monsieur Tintin, mais oui.

Die Vorveröffentlichung der dreiundsechzig Tafeln von „Tintin au Tibet“ begann am 17. September 1958 in den Spalten des „Journal Tintin“ mit einer Tafel pro Woche und dauerte bis zum 25. November 1959. Die Albumversion, die 62 Seiten umfasst, wurde 1960 bei Casterman herausgegeben. Die Zeitschrift „Tintin“, auch „Le Journal Tintin“ genannt, erschien von 1946 bis 1988 und richtete sich, so der Untertitel, an „jeunes de 7 à 77 ans“. Auf der letzten Seite wurden jeweils die Abenteuer von Tintin gedruckt, im Heftinnerin gab es weitere Comics sowie Geschichten, Nachrichten und Werbung. Am 20. Dezember 1956 erschien, mit dem Titelbild eines Kletterers in grösster Not im Seil hängend und sich noch mit einer Hand an den Fels klammernd, folgende Bande dessinée: „Victoire sur le Cervin“. Darin hat Louis Hache auf vier Seiten gezeichnet, wie zwei junge Zermatter ihren in Bergnot geratenen Vater und Bergführer retten, in dem sie bei drohendem Gewitter über den schwierigen Furggengrat hochklettern und dann über den Hörnligrat absteigen, noch grad rechtzeitig eintreffend: „Mes enfants… Vite… Je sens que je lâche prise.“

Hergé au sommet. Coordonné par Olivier Roche. Éditions Sépia, Paris 2021, € 20,00. www.zoomsurherge.fr

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