Moderne Zeiten

«Modern times» sind eigentlich immer, und so ist es doch beruhigend (für Alt und Jung), dass auch die vorgestellten 100 modernen Top-Routen dereinst alt aussehen werden. So sind halt die Zeiten. Also nicht gleich hinlaufen und am Einstieg anstehen. Die Deluxe-Edition im edlen Schuber wird auch der Grossvater noch mit Freude durchblättern und sich erinnern.

„Für Jürg von Känel hat der neue Kletterstil mit dem Bergsteigen im üblichen Sinn nichts mehr zu tun‘. Es ist nicht mehr das Gipfelerlebnis gesucht, sondern man versucht, immer schwieriger zu klettern, die Sturzgrenze immer ein wenig weiter hinauszuschieben. Deshalb werden nur noch Routen geklettert, in denen der Fels absolut fest ist und wo ‚man gut sichern kann‘. Denn in solchen Schwierigkeiten, wo der Kletterer das Gesetz der Schwerkraft aufzuheben scheint, ‚liegt ein Sturz sicher drin…‘“

Ende der 70-er Jahre im letzten Jahrhundert waren neue Zeiten beim Klettern angesagt. Mit „Freier Gang an der Sturzgrenze“ ist mein Artikel vom 31. Oktober 1979 in der „Berner Zeitung“ überschrieben, im Untertitel heisst es: „Der sechste Grad aus ‚ausgedient‘ – ein neuer Kletterstil kommt auf: all free.“ Vor rund 40 Jahren begann beim Klettern ein neues Zeitalter, insbesondere in den Alpenländern. Einer der damaligen Pioniere war der Berner Oberländer Jürg von Känel. 1978 eröffnete er zusammen mit Martin Stettler am Granitpfeiler neben der Gelmerseebahn im Grimselgebiet die Route „Fair Hands Line“. Der Name war und ist Programm: klettern by fair means. „Verzicht auf alle künstlichen Hilfsmittel wie Felshaken, Klemmkeile, Trittleitern, Quergangsseile usw.“, wie in der BZ zu lesen war. „Der Kletterer darf zur Fortbewegung nur noch einsetzen, was er sowieso schon mitbringt: seinen Körper.“

„Fair Hands Line“ gehört zusammen mit den Routen „Dingomaniaque“ in der Verdon-Schlucht und „Schwalbenschwanz“ in der Südwand der Marmolada zu den zweitältesten, die für den druckfrischen Bildbandführer „moderne zeiten. 100 legendäre Freikletterouten in den Alpen“ ausgewählt wurde. Die älteste aber sind die „Pumprisse“ am Fleichbankpfeiler im Wilden Kaiser, 1977 erstmals durchstiegen von Helmut Kiene und Reinhard Karl. Mit dieser Route wurde die starre sechsstufige Schwierigkeitsskala gesprengt und der siebte Grad offiziell eröffnet. Vom neuen Freiklettergeist beflügelt, erschlossen in der Folge Kletterer wie Jürg von Känel schier unzählige Routen: freier, schwerer und anders als das bisher Dagewesene. Moderne Zeiten eben.

Achim Pasold und Ralph Stöhr stellen 100 moderne Routen aus dem ganzen Alpenbogen vor, von den Gorges du Verdon in Südfrankreich bis zum Schneeberg bei Wien. 27 stammen aus der Schweiz, von der „Mamba“ am Miroir d’Argentine bis zur „Rialto“ an der Sulzfluh. Am Eiger wurden gleich zwei Linien ausgewählt: „Märmelibahn“ in der Südostwand und „Deep Blue Sea“ in der Nordwand, „die schwerste Route in diesem Buch“. Die 100 Routen werden jeweils auf einer Doppelseite vorgestellt: rechts ein ganzseitiges, bestens beleuchtetes Farbfoto des Kletterzieles mit kleinen roten Pfeilen für Ein- und Ausstieg, links ein gezeichnetes Topo mit Routenverlauf und wichtigen Infos; dazu ein locker geschriebener Text und kurze Angaben zu Zustieg, Zeitbedarf etc. Prima gemacht! Damit könnte man gleich einsteigen, vorausgesetzt, man habe den siebten Schwierigkeitsgrad bzw. ein französisches 6b+ locker drauf.

Zwei kleine geografische Fehler haben sich eingeschlichen: der Ofen mit dem „Indianerpfeiler“ im Melchtal steht nicht in den Berner, sondern in den Unterwaldner Alpen, und die berühmte Route „Motörhead“ der Gebrüder Remy im Eldorado am Grimselsee liegt nicht in den Urner, sondern den Berner Alpen. Und wenn wir schon am Mäkeln sind: Die Route vom atemberaubenden Titelbild, nämlich „Unendliche Geschichte“ an der 7. Kirchlispitze im Rätikon, fehlt unter den 100 vorgestellten; wahrscheinlich ist sie die 101. Sicher aber ist: „moderne zeiten“ ist der Nachfolger von „Im extremen Fels“ – der „Pause“ im heutigen Jahrhundert.

Achim Pasold, Ralph Stör: moderne zeiten. 100 legendäre Freikletterrouten in den Alpen. Inklusive Topo-ebook. Panico Alpinverlag, Köngen 2017, Fr. 59.90. Limitierte Deluxe-Edition (777 handnummerierte Exemplare) im edlen Schuber, inklusive zwei Topofächern der 100 Routen, dem Spiel „Kletterreise durch die Alpen“ in Tisch- und Zeltversion, einem Postkartenset und einem Poster; Euro 89.80. www.panico.de

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