Monte Contrario

Biwak in den Marmorbergen. Erinnerung an eine kalte Nacht in den Bergen der Toskana.

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Den alten Kletterführer der Alpi Apuane habe ich letzthin weggeworfen, aber nun ist ja vor kurzem ein neues Wanderbuch herausgekommen, nachzulesen in Daniel Ankers Buch der Woche. «Gluschtig» macht es mich, die Berge zu durchwandern, wo ich vor dreissig Jahren das kälteste Biwak meines Lebens durchzitterte. Die Lichter der Strandpromenade von Massa vor Augen, eine glitzernde Perlenkette in der dunklen Tiefe, so kauerten wir in einer Felsrinne, einem kalten Luftzug ausgesetzt. Ein kleines Feuer war längst ausgegangen, Ausrüstung zum Biwakieren hatten wir nicht, wahrscheinlich nicht einmal Pullover. Schliesslich befanden wir uns ja im warmen Italien. Wir, mein Schwager Heini und ich. Er hatte zu alldem noch seine Pfeife in einer Hütte liegengelassen, doch wenigstens die Zündhölzer noch dabei. Aber Holz lag da nicht viel herum.
Die Kälte frass schliesslich unsere letzte Energie weg. Stundenlang schüttelten mich Kälteschauer, als litte ich an der Parkinsonschen Krankheit. Dass meine Zähne klapperten ist keine Metapher, sondern Wirklichkeit. Es war die zweite Nacht im Freien, die zweite Nacht ohne einen Tropfen Wasser in dem trockenen Gebirge. Die vorherige hatten wir im Sand eines Marmorbruchs verbracht. Dann Aufstieg von Meereshöhe auf den 1789 Meter hohen Gipfel des Monte Contrario über die Westwand, Grashalden, steiler, immer steiler, fast senkrecht. Dann einige hundert Meter durch brüchigen Fels, an Haken kann ich mich nicht mehr erinnern, aber an 40 Meter Seillängen ohne jede Sicherung. Im Abstieg dann Nebel und Nacht. Wir redeten wenig, wir zitterten, wir waren vollständig dehydriert. Wenn ich etwas erzählte, dann gewiss von jenem Toten, den ich viele Jahre zuvor unten am Strand gesehen hatte, ein Mopedfahrer, von einem Lastwagen überfahren. Und ich erinnerte Heini vielleicht an den alten Grundsatz: die erste Nacht überlebt man immer. Aber es war ja schon die zweite, und irgendwie kreisten meine Gedanken immer wieder um jenen Toten unter einer grünen Plane, unter der noch ein blutiger Arm hervorschaute. Ein fremdes Schicksal, das man berührt, das einen berührt. Er lag am Strassenbord, niemand kümmerte sich um ihn. Ein einsamer, ein schrecklicher Tod.
Schliesslich wurde Morgen, in Umkehrung meines berühmten Satzes: «Sicher war nur, dass die Nacht kam.» Und wie das so ist in den Bergen, auf das grosse Leiden folgt der Gipfel des Glücks. Und das war der erste Cappuccino drunten in Massa, in der ersten Bar die geöffnet war, Brioches dazu, und nochmals Cappuccino hinterher.

2 Gedanken zu „Monte Contrario

  1. Ich erinnere mich noch genau an das Unternehmen: Beim Biwak im Steinbruch legten wir Zeitungen auf den harten Grund, die Daunensäcke darauf. Irgendwann drückten uns beinahe die Knochen durch die Haut. Aufbruch in der Dunkelheit, als die ersten Arbeiter mit ihren Macchinas anrollten. Die Angst in der unsäglich langen, steilen, grasdurchsetzten Flanke. Anschliessende Kletterei ohne Haken, selten ein Bloch für eine dürftige Selbstsicherung. Kurzes Gipfelglück und Abstieg, zunächst durch Felder duftender Heidelbeeren, die wir wegen des Zeitdrucks nicht pflücken konnten. Der Entscheid zum Notbiwak, weil der Abstieg im Dunkeln zu gefährlich gewesen wäre. Wir fanden nur wenig dürres Gras für ein Feuer, schichteten es auf, Steine darum als Wärmespeicher. Wir hatten nur Windjacken dabei, das Seil als Unterlage. Nach Mitternacht zündeten wir das Feuerchen an, kurzes Auflodern. Die Beine steckten wir in die Rücksäcke, die aufgewärmten Steine darunter. Dann wieder unkontrollierbare Schüttelfröste. Ich weiss seither, dass diese kurze Wärmeschübe in den Muskeln erzeugen. Aufbruch im Morgengrauen, mit steifen Gliedern erreichen wir die Stadt… Und seither stehen für mich drei Dinge stellvertretend für Italianità: Die frühmorgends geöffnete Bar, süsse, luftige Brioches und der unbeschreibliche Duft feinen Kaffes.

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