Monte Generoso, Val di Muggio, Val Bavona, Val Calanca u.s.w.

Es scheint fast, als habe eine Tessiner PR-Agentur die Alpine Literatur entdeckt. Oder dann ist es die Liebe unseres Rezensenten zur Südschweiz, zur Italienischen Sprache und zum Merlot, die zu dieser Buchlese geführt hat: Tessin total, von Botanik, Bouldern, Berglandwirtschaft und Bundesräten.

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„Sehr wenige Berge sind leichter Besteigung so zugänglich und zugleich von so erstaunlicher Aussicht wie unser Giónnero [= Monte Generoso]; sehr wenige kommen ihm in der Hervorbringung seltener Arten Gewächse gleich. Den italienischen Botanikern ist er so werth, dass sie einen Abhang desselben den Blumengarten benannt haben. Wann die lombardische Jugend mehr Liebe zu Naturschönheiten fassen, sich mehr mit nicht weichlichen Uebungen abgeben wird, dann werden die Hügel und die Berge häufiger besucht, dann wird der Giónnero seine köstlichen Freuden denen reichen, welche hinkommen werden, um auf dessen erhabenen Gipfeln die schwere Bürde der städtischen Plackereyen abzulegen; dann wird der Giónnero ein zweyter Rigi seyn, und gewiss wird der Rigi der italiänischen Schweiz den Vergleich mit dem Rigi der teutschen nicht scheuen.“

Das erklärte Stefano Franscini, erster Tessiner Bundesrat von 1848 bis zum Tode 1857, in seiner Landeskunde „Der Kanton Tessin“ aus dem Jahre 1835. Er hatte Recht: Der Monte Generoso (1701 m) gilt heute als die Rigi der Südschweiz. Ja, man könnte sagen: Wäre der Berg über dem Lago di Lugano früher mit Wanderwegen, Hotels und Zahnradbahnen erschlossen worden als sein Verwandter am Vierwaldstättersee, dann hätte dieser wohl den Übernamen Generoso der Urschweiz erhalten. Um 1910 erschien der Führer „Monte Generoso. Der Rigi der Südschweiz“, 10 Jahre später die französische Ausgabe. Ein ganzes Kapitel ist dem „Rigi della Svizzera italiana“ gewidmet in der neuen Monografie über den berühmten Aussichtsberg am Rande des Tessins und der Lombardei.

Mit „La Scoperta del Monte Generoso“ ist der 415 Seiten dicke, reich illustrierte Bildband betitelt. Tatsächlich eine Entdeckung. Der aus Liaskalk aufgetürmte Berg ist, wie schon Franscini sagte, der florareichste des Tessins mit allein 23 Orchideenarten. Hier wachsen Blumen, die es sonst nirgends gibt. Fast unbehelligt von menschlicher Hand blühen die Blumen in der Westflanke des Monte Generoso, die mit ihren haltlosen Grasbändern und senkrechten Trümmermauern eindrücklicher als manche Hochal–penwand aussieht. Auf der andern Seite ist der Berg leichter zugänglich. Dottore Pasta liess einen gepflasterten Saumweg aus Kalksteinen errichten, auf dem Maultiere die Vorräte und die weiblichen Gäste in die damals noch dunstfreie Höhe brachten; fünf Franken Lohn erhielten die Treiber für den Aufstieg vom Bahnhof Mendrisio zum Grandhotel. 1890 wurde die Bahn auf den Monte Generoso eröffnet, so dass noch mehr Touristen die weitreichende Aussicht bewundern konnten – und dies immer noch tun: Bei guter Fernsicht sieht man den ganzen Alpeninnenbogen vom Monte Viso über Monte Rosa, Matterhorn, Finsteraarhorn und Dammastock bis zum Bernina und Ortler, im Süden das Glasdach des Mailänder Hauptbahnhofs, dahinter den Apennin. Und in der Tiefe die steilhügelige, von schimmernden Fjorden durchzogene Landschaft.

Im Süden des Generoso liegt das Valle di Muggio, das südlichste Tal der Schweiz, bekannt für die Schneegrotten, die sogenannten nevère. Weil auf den trockenen, kalkbödigen Hängen das Wasser sofort versickert, konnte man die Milch nicht damit kühlen. Deshalb baute man tief in den Boden hinein ein rundes Gebäude und liess darum herum ein paar Buchen wachsen. Die nevèra wurde im Winter mit stark zusammengepresstem Schnee gefüllt, worin man auch im heissesten Sommer die Milch bei zwei bis drei Grad lagerte, um dann die köstlichen Formaggini zu machen.

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Rurale Architektur gibt es auch in einem andern Tal des Tessins zu bewundern: im Val Bavona. Ein klassisches U-Profiltal, das der Gletscher ausgehobelt hat. Die Talflanken sind so steil und damit die Zugänge zu den obersten, da und dort etwas flacheren Alpen so schwierig, dass ein Grossteil des Tales sich nur schlecht für die Berglandwirtschaft eignet. Und trotzdem entdeckt man bei genauem Hinschauen auf fast jeder etwas ebeneren Stelle, die nicht ganz von Geröll bedeckt ist, eine Steinhütte. Unwillkürlich fragt man sich, wie die Leute dort hinauf gekommen sind. Es waren mutige Menschen, die sich nicht scheuten, an den ungangbarsten Stellen Alpwege und Hütten zu errichten. Ihre Geschichte und ihr Zustand heute enthüllt ein 575seitiger Führer, der 156 Alpwege mit 26 Karten und 529 Fotografien beschreibt. Manchmal muss man genau hinschauen, um Gebäude zu entdecken, welche die Bergbauern an Wände und Blöcke bauten, ja manchmal unter diese. Dass sich die Felsen auch zum Klettern eignen, dafür hatten die Bergler keine Zeit.

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Ihre Nachkommen schon. Bouldern nennt man das Klettern an Felsblöcken, und dafür ist das Tessin weltberühmt. Für das Topgebiet Cresciano gibt es einen eigenen Führer. Nun ist ein Boulderbuch zum Val Calanca erschienen; dieses Tal liegt zwar in Südbünden, ist aber nach dem Tessin ausgerichtet. „Bouldern im Calancatal heisst nicht bloss schwierige Passagen meistern und sportliche Leistungen vollbringen, sondern auch in eine wilde Natur eintauchen, die sich ihr Revier allmählich zurückerobert. Als vor knapp zehn Jahren die ersten Boulder entdeckt wurden, hätte niemand geglaubt, dass sich am Ende derart viele Sektoren und gegen 1000 Routen finden liessen“, heisst es im Vorwort. Auch Stefano Franscini staunte, wie die Jugend in diesem abgelegenen Tal die Bürde städtischer Plackerei ab- und die Hände anlegt.

Paolo Crivelli, Silvia Ghirlanda: La scoperta del Monte Generoso. Museo etnografico della Valle di Muggio/Armando Dadò editore, 2011, Fr. 60.-
Giuseppe Brenna, Luigi Martini: Alpi di Val Bavona. Sui sentieri dei padri, vol. 3. Salvioni Edizioni/Armando Dadò editore, 2011, Fr. 55.-
Michele Bionda, Roberto Grizzi: Bouldering in Val Calanca. Calancaboulder, Monte Carasso 2011, www.calancaboulder.ch. Fr. 40.-

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