Monte Sordo, immer wieder

«Eines der schönsten Massive des Gebietes, hervorragender Fels, traumhafte Landschaft, phantastische Routen in allen Schwierigkeitsgraden, kurz, ein Muss.» So steht es in einem Kletterführer von Finale. Aber das sehen nicht alle so.

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Das Wetter, wolkenlos und warm, es ist Mitte November. Vor vier Tagen hat es in zwei Stunden so viel geregnet wie sonst in drei Monaten, erzählt man uns. Zeigt uns Handyfotos: in Finalborgo stand das Wasser meterhoch in den Strassen. Trockenmauern stürzten ein, Bäche rauschten über die Felswände, rissen Runsen in die steilen Talflanken, verschütteten Strassen und Wege. Doch heute, alles vergessen, alles wie immer, die Felsen trocken, die Temperatur angenehm. Finale, der Traum vom Klettern.
Zum Abschied, und das wie oft, geht’s hinauf zum Monte Sordo, dem Berg, der nichts hört. Unser Pflichtprogramm beginnt mit der Placca delle bimbe, eine Aufwärmeroute, die aber auch schon recht in die Finger geht. Sofern es überhaupt was hat für die Finger. Der Fels ist löchrig, Finalefels eben. Auch wenn sie kleinen Mädchen gewidmet ist, wie der Name suggeriert, man muss zupacken.
Bald trifft ein junges Paar ein, sie sprechen deutsch und fragen nach unserer Route. Der Mann blättert im Kletterführer, mit farbigen Klebern sind Seiten markiert. «Ah, hier sind wir.» Ja, da ist eine Route, und da, und da. Anseilen, er entledigt sich des Tshirts, es ist ja schon recht warm und ein trainierter Oberkörper sieht echt stark aus. Das Muskelspiel zeigt sich, und man wundert sich, dass er sich für eine 5c entscheidet. Den grossen, oben nach rechts sich neigenden Riss, der sich durch den zentralen Sektor zieht. L’arco dei Guaitechi, die erste die logische Route durch die Wand, im Juni 1973 erstbegangen von Gianni Calcagno, einem der bedeutendsten italienischen Alpinisten, der 1992 am Denali ums Leben kam. Und von Alessandro Grillo, ein Kletterpionier, der für seine Erschliessertätigkeit im Finalese von der Gemeinde Finale Ligure mit dem Premio «Una vita per Finale» ausgezeichnet worden ist. Die Route ist also ein Klassiker im historisch Sinn wie auch im Stil: Risskletterei, spreizen, stemmen, piazzen.
Der junge Sportsmann mit der nackten Brust schafft denn die Länge auch mit etwas hängen und schimpfen, seine Begleiterin will nicht nachsteigen. «Gefällt mir nicht!»
Nun gut, man will ja Spass haben, sich nicht aus Pietät vor der historischen Bedeutung der Route die Finger kaputt machen. Wen interessiert denn schon die Geschichte einer Route und ihrer Erschliesser. Der Junge, nun wieder im Tshirt, setzt zu einer Schimpftirade an, die kein Ende nehmen will und von der wir vor allem das immerzu wiederholte Wort «Scheisse» vernehmen. Es ist also eine Scheissroute und Finale ist überhaupt totale Scheisse mit diesem Scheissfels und den Scheisslöchern (ich fasse zusammen). Zum Glück, denke ich, ist der Berg taub, wie sein Name sagt, sordo, sonst würde er vielleicht ein Stück Fels auf die frustrierten Besucher schmeissen.
Nervöses Blättern im Führerbuch, dann Beratung. Wohin könnten wir denn fahren, wo der Fels nicht so scheisslöchrig und scheissabgespeckt und überhaupt ist? Das sei, höre ich zwischendurch, überhaupt nicht Sportklettern sondern nur … eben. Übrigens auch der Führer des braven Thomas Tommasini muss noch dranglauben: Scheisse.
Nun habe ich ja eigentlich nichts gegen das Wort, ich habe es sogar mal in einem Text verwendet, für den ich vom Schweizer Alpenclub einen Literaturpreis erhielt, trotz Gegenstimme einer Frau Vögeli in der Jury, die sich eben an diesem Wort störte. Aber man braucht es halt manchmal, es rutscht einem raus, aber doch bitte mit Mass.
Wir klettern also weiter unser Programm, die beiden Jungen beruhigen sich, packen zusammen und ziehen still und leise davon. Wohin, haben wir nicht verstanden, hoffen einfach, dass sie irgendwann doch noch Felsen finden, die nicht scheisse sind, sondern eben so, wie sie sich das zuhause vorgestellt haben, als sie das Führerbuch studierten und mit farbigen Klebern die Sektoren markierten. Und wenn nicht, dann gibt es ja auch Kletterhallen, da ist der Fels bestimmt nicht scheisse, denn es gibt gar keinen.

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