namenlos und grandios

Eine Route kann ihrem Namen alle Ehre machen. Was aber, wenn sie noch namenlos ist? Dann muss sie sich erst einen verdienen. Das kann gelingen, sobald sie erklettert ist. Muss aber nicht. © Annette Frommherz

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‚Silberbrüggli’ nennt sich der Sektor, den wir heute näher ansehen wollen und der auf 1100 Metern über Meer liegt. Weit unten ruhen die Innerschweizer Seen, wie Pfützen zwischen den Bergen eingeklemmt. Am Vortag erst ist die Route gebohrt worden, die heute jungfräulich erklettert werden will. Eine 6a+, von der ich weiss, dass sie mir vorläufig nur im Nachstieg gegönnt ist, und auch so noch einiges von mir abverlangen wird.

Es wird der letzte Tag vor dem ersten Schnee sein. Der Fön erzählt bereits von kalten Flocken. Wir packen unsere Siebensachen in den Rucksack, um zum Felsen abzusteigen. Mit dabei tragen wir einen Laubrechen. Vorbeikommende Wanderer staunen über die komischen Käuze, die nach Berglern aussehen und sich als Gärtner tarnen. Dennoch fragen sie nicht, was wir damit wollen. Ich hätte ihnen gerne erklärt, dass wir das Laub vom schmalen Weg rechen wollen, damit der Schnee, der hier bald liegen wird, weniger Gelegenheit haben wird, vereiste Stellen zu bilden. Denn mit schweren Rucksäcken diesen steilen Pfad zum Felsen hinunterzulaufen kann zu einer gefährlichen Rutschpartie werden.

Die ‚Fallenflue’ ist nicht nur ein wenig bekanntes Klettergebiet, sondern gilt gar als Geheimtipp. Nur ungern gebe ich deshalb preis, wo sie liegt. Wer sie einmal entdeckt hat, wird begeistert sein und immer wieder hierher zurückkehren. Am eindrücklichsten ist die Unberührtheit, die dieser Ort ausstrahlt; von Menschenhand nur sanft angetastet. Unter uns stehen die Felsen zwar in stummem Einverständnis. Doch wir sind Eindringlinge; davon schreit auch der Falke, der hoch über unseren Köpfen so manches Mal seine Kreise zieht. Hier in der Südwand führt oft nur ein hüftbreites Grasband zu den Routen. Auf der einen Seite zieht sich die Wand hoch hinauf, während auf der anderen der Felsen steil ins Nichts abfällt. Weit unten sucht sich das Muotathal den Weg zwischen beiden Seiten. Wie dankbar bin ich, dass mir ein Stahlseil entlang dem Felsen mehr Sicherheit bietet. Im Topo heisst es dazu ganz pragmatisch: ‚Stellenweise ist diese Seiltraverse sehr ausgesetzt’. Ich habe mich damit angefreundet. Vor einem Jahr hätte ich noch keinen Schritt auf diesen schmalen Pfad gewagt.

Die Route ist noch namenlos, noch ungetauft. Sie hat einen schönen Namen verdient, das wird mir klar, kaum bin ich beim dritten Haken angelangt. So abwechslungsreich wie keine andere bietet sie erst den Risskletterern eine passable Stelle, später hält sie eine kurze Passage für Begeisterte im Grätschen parat. Die Überhänge sind athletisch zu meistern, während sich die technischen Stellen nach robusten Fingerbeeren sehnen. Klemmgriffe sind ebenso vorhanden, aber selten, was meinen bescheidenen Kletterkünsten entgegenkommt. Die Kalkroute ist noch ungejätet und das Gestein teilweise bröcklig. Ich muss acht geben, dass die Griffe halten, was sie versprechen. Nach zwanzig Metern und öfter im Seil, als mir lieb ist, habe ich den Stand erreicht.
Wir klettern, bis die Dämmerung uns überrascht. Ich verlasse mich darauf, dass über uns der Himmel schützt und unter unseren Füssen gutes Schuhwerk. Und wie uns die Nacht verschluckt, sind wir mit schweren Beinen auf dem sicheren Weg.

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Von jeder Tour zu den Felsen wandern verwitterte Holzstücke und besonders schöne Steine in meinen Rucksack. Immer kehre ich mit schwererem Gepäck heim als ich losgezogen bin. Ich kann nicht anders. Mein Sohn schüttelt wortlos den Kopf, wenn ich zu Hause wieder Steine auspacke und auf die Simse stelle; zu all den anderen, die mir lieb sind. Ein vertrautes Stück Felsen in meiner Nähe. Diesmal ist es ein Brocken aus der namenlosen Route.

Infos und Topos Fallenflue: http://www.mountaingeier.ch/Aktuell/Fallenflue.19.html

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