Einst «sehr schwierig», heute plaisir. Eine Erinnerungstour, Bockmattli, fünfzig Jahre später.
Wir klettern auf der blauen Piste. Blaue Punkte, manchmal Pfeile, weisen die Route, die man kaum verfehlen kann, denn es ist ja eine Kante. Namenlose Kante im Bockmattli. Muniringe nach jeder Seillänge, dazwischen Bohrhaken in angenehmem Abstand, manchmal ein geschlagener, verrostet, Relikt einer langen Geschichte. Plaisir! Kürzlich hat Reinhold Messner aus Anlass seines Eintritts ins Rentenalter diese Art Klettern mit dem Pistenskifahren verglichen – nicht ganz zu Unrecht, wie wir zwei Rentner hier an der «Namenlosen» feststellen. Aber eigentlich ist uns ja egal, was Messner denkt oder sagt, uns freut die Bewegung in freier Luft, der Blick ins Land, das Tingeln der Kuhglocken auf der Alp unten und die Sonne, die jetzt eben über die Kante steigt. Plaisir!
Wir reden wenig, das Doppelseil macht Seilkommandos überflüssig. Leicht und ruhig steigen wir höher und höher und denken an einst. Die «Namenlose» war meine erste «schwere» Tour, fast auf den Tag fünfzig Jahre ist’s her. Vier plus – «sehr schwierig» bedeutete das damals. Drei Cracks aus der IO hatten mich Milchzahnalpinisten mitgenommen. Ein grauer Tag. An der Schlüsselstelle, einem kleinen Wulst, flog mein Crack ins Seil, und so kam ich als Zugabe auch noch zur Heldentat, einen Sturz gehalten zu haben. Das war damals noch ein seltenes Ereignis, die von den Erstbegehern selbst gefertigten Haken hatten oftmals nur eine Öse aus zusammengedrehtem Eisendraht. Da stürzte man besser nicht hinein. Doch der Haken hielt, ich fand die Stelle dann gar nicht so schwer, obwohl ich noch gar keine richtigen Bergschuhe besass, sondern bloss alte Miltärlatschen.
Das Bockmattli wurde meine Heimat, nicht meine zweite, sondern meine erste richtige. Jahrelang, Samstag für Samstag mit dem Velo durchs Tal heraufgrochsen, übernachten in der Schwarzenegg im Heu und klettern, klettern. Dem Bockmattli verdanke ich wohl mein erstes bisschen Selbstbewusstsein, das mir im Leben später doch gelegentlich weitergeholfen hat: Westpfeiler! Kleine Westkante mit Dach! Die Nordwand! Die Direkte! Die grosse Westwand! Und so weiter.
Der Fels ist nicht immer solid hier, und ich merke, wie ich intuitiv jeden Griff prüfe, ob er halte, eine sachtes Rütteln mit der Hand, bevor ich ihn belaste, ein Reflex, der sich eingeprägt hat in jenen Jahren. Vielleicht hat er mir, ohne dass ich es weiss, einmal das Leben gerettet.
Die «Namenlose» galt damals bald nicht mehr so viel in der Szene, war sowas wie eine Teststrecke für Kletterfreundinnen und -freunde. Ich kletterte sie solo ohne Sicherung, war ja «nur» ein Vierer, was ich mir heute lieber nicht mehr vorstelle. Ich bin froh um die schönen neuen Bohrhaken und Muniringe und sogar um die blauen Punkte, die einen etwas verborgenen Stand markieren. Plaisir! Was solls? Jeder Generation ihren Stil.
Vielleicht würde sogar der jungverheiratete Rentner Messner diesen friedlichen Augenblick nach der gut gesicherten Kletterei geniessen: Die Herbstwärme, den Wind im Gesicht, den Schluck Wasser und den Getreideriegel am Graskopf, der kein richtiger Gipfel ist, unbelastet von einem Gipfelkreuz oder Gipfelbuch. Namenlos schön.
Eben habe ich nach der Anmeldung für die Bergliteraturtage 2010 gefahndet und u.a. Deinen Blog gefunden. War just 2 Tage vor Deiner Jubiläumsbegehung – nach der Nordwand im letzten Juni, in welche wir damals einstiegen, weil es auf der geplanten Namenlosen so viele Leute hatte – das erste Mal in der Namenlosen. Eine wirklich sehr schöne Route, wunderbares Wetter, eine traumhafte Fernsicht und praktisch alleine. Ein Herbsttag vom Schönsten und effektiv eine plaisir route. Und sah – als ich zufälligerweise am Tag danach zu Hause bei meinen Eltern alte Fotoalben anschaute, dass mein Vater vor just 65 Jahren daselbst mit der Zwingliana geklettert hatte (wovon ich keine Ahnung hatte, auch nicht, dass er kletterte, dachte immer, er sei „nur“ wandern gegangen). Wie die Zeit vergeht!