Neue Bergromane

„Ich bleibe hier“: Der Titel des Bestsellers von Marco Balzano ist Programm und Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten. Im Südtirol so gut wie im Valle di Blenio oder auf der Alp Chüetungel ob dem Lauenensee.

«Ich glaube, das ist eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit: Zu bleiben, um den Ort zu verändern, an dem wir sind. Zu kämpfen für eine Landschaft, für die Rechte einer Gemeinschaft. Wenn wir es nicht tun, haben wir schon verloren.»

Antwortete der Mailänder Schriftsteller Marco Balzano auf die Frage von Susanna Kübler, weshalb er über Menschen schreibe, die gegen alle Widerstände ausharren. Titel des Interviews, das am 20. Juli 2020 in der Berner Tageszeitung „Der Bund“ erschienen ist: „Ganz Italien wird zu einem riesigen Museum“. Illustriert ist das Gespräch mit einem Foto des Kirchturms von Graun am Reschenpass, der seit August 1950 halb versunken im Reschen-Stausee in der Nordwestecke von Südtirol unweit der Schweiz steht; ein Symbol des verlorenen Machtkampfes der Einheimischen gegen auswärtige Interessen – und heute ein beliebtes Motiv für Selfies. Der Glockenturm ist (natürlich) auch auf dem Cover von Marco Balzanos Roman „Ich bleibe hier“ abgebildet. „Resto qui“ ist in Italien ein preisgekrönter Bestseller mit weit über 100‘000 verkauften Exemplaren und mittlerweile in elf andern Ländern erschienen. Mehr noch: Netflix Italia hat die 7-teilige Serie „Curon“ über den Reschensee gedreht; laut der „Coopzeitung“ von gestern Dienstag ist sie zur Spitze der Charts aufgestiegen.

Auf die Frage, wie er als Mailänder eigentlich auf das Thema Südtirol gekommen sei, gab Marco Balzano zur Antwort: „Per Zufall, ich habe mich verfahren. Und stand plötzlich an diesem See, aus dem der Kirchturm ragt. Das Bild hat mich getroffen wie ein Blitz. Ich habe die Arbeit an einem anderen Roman unterbrochen, um darüber zu schreiben.“ Zum Glück für uns LeserInnen. Entstanden ist ein dichtes, historisch verblüffendes und emotional tief berührendes Buch über eine Familie und ein Dorf im Länderdreieck Italien-Österreich-Schweiz, das überflutet wird von Katastrophen, die nicht nur als Kriege hereinbrachen, sondern auch als (vermeintlicher) Fortschritt. Die Hauptfigur Trina leistet Widerstand, zuerst gegen Mussolinis Faschisten, die ihr verbieten, als Deutschlehrerin tätig zu sein, später gegen den Energiekonzern, der Felder und Häuser überfluten will. Eigentlich ist das Buch ein langer Brief an ihre Tochter, die zwischen diesen beiden Ereignissen abgehauen ist, ein vermeintlich besseres Leben. Im Roman zerreisst Trina Hefte und Briefe an sie und an ihre Freundin: „Wörter konnten nichts ausrichten gegen die Mauern, die das Schweigen errichtet hatte. Sie sprachen nur von dem, was es nicht mehr gab. Also war es besser, wenn keine Spur davon blieb.“ Marco Balzano beweist mit seinem Roman das Gegenteil.

„Resto qui“: Das hat sich ebenfalls der alte Felice gesagt, der im Dorf Leontica im Valle di Blenio bescheiden und einfach lebt, Holz hackt, Schnee schaufelt, den Einwohnern hilft, die Bar besucht, mit seinem altersschwachen Suzuki durchs Tal kurvt. Und der sich es sich selbst im Winter bei Schnee nicht nehmen lässt, am frühen Morgen ein Bad in einer Gumpe oberhalb des Dorfes zu nehmen. „La pozza del Felice“ heisst den auch der originale Titel des Romans des Tessiner Schriftstellers und Filmwissenschaftlers Fabio Andina. „Tage mit Felice“ trifft den Inhalt dieses preisgekrönten Buches gleichfalls sehr gut. Denn ein Ich-Erzähler begleitet Felice durch ein gute Woche, in welcher der Winter kommt, und sonst einiges passiert, leise nebenbei und doch immer stärker an der Oberfläche auftauchend. Dabei sind die Berge stumme Zeugen dieser scheinbar stillen Tage: der Simano, die Adula (nicht der – ein kleiner Misstritt bei der Übersetzung). „Tage mit Felice“ schildert das Hereinbrechen der Zeit(en) in einem (Tessiner) Bergdorf, kunstvoll festgehalten: eine Leseerfahrung, in die wir eintauchen sollten.

Und dann wartet da noch „Alpsegen. Die Reporterin am Lauenensee“ von Philipp Probst, Autor, Journalist und Chauffeur bei den Basler Verkehrs-Betrieben. In dieser Stadt arbeitet die Reporterin Selma. Ein Werbeauftrag führt sie auf die Alp Chüetungel hoch über dem Lauenensee im westlichen Berner Oberland, wo die Älplerfamilie Kohler recht und schlecht den Sommer verbringt; der Vater will die Alp gar verkaufen. Für Sonne sorgt wenigstens die Sennerin Martina, die sich aber dummerweise in jenen Sohn der Familie verliebt, den Selma bei früheren Ferien in Gstaad etwas näher kennengelernt hat. Was wäre ein echter Bergroman ohne Liebesgeschichte? Mehr sei nicht verraten zum „Alpsegen“. Nur soviel: Johannes Jegerlehner und Gustav Renker hätten grosse Freude an Philipp Probst. Und: Morgen Donnerstag wandere ich auf Chüetungel hinauf; vielleicht bleibe ich dort.

Marco Balzano: Ich bleibe hier. Diogenes Verlag, Zürich 2020, Fr. 30.-
https://www.derbund.ch/italien-wird-zu-einem-riesigen-museum-340549972984

Fabio Andina: Tage mit Felice. Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich 2020, Fr. 28.-

Philipp Probst: Alpsegen. Die Reporterin am Lauenensee. Orte Verlag, Schwellbrunn 2020, Fr. 34.-

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