Neue Bergromane

Endlich kommt das Wägital wiedermal literarisch zu Ehren – seit Meinrad Inglins «Urwang» ist ja schon viel Wasser durchs Druckrohr des Kraftwerks geschossen. Berge, Wandern und Klettern ist neuerdings bei der Sinnsuche der jungen Literatengeneration ein Thema. Die Zeit von Gauloises, Burgunder und Kronenhalle scheint definitiv passé.

„Thomas fühlte sich gegenwärtig wie sonst nie, es war ihm, als habe er keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es gar nur diesen Tag, diesen Weg, auf dem er sich langsam den Berg hinauf bewegte.“

„Die Berge, die Felsen hatten schon existiert, bevor im Talboden grüne Matten entstanden waren, als der Wägitalergletscher den Boden bedeckt hatte, und noch früher. Die Felsen verrieten ihm jetzt alle Geheimnisse, die er immer hatte erfahren wollen. Seppli verstand endlich ihre Sprache.“

„Ihr Blick folgten den bewaldeten Hängen entlang hinauf zu den höchsten Berggipfeln, nicht endende Ketten, die sich erst im fernen Dunst entflochten. Am Horizont verschwamm das Weiβ der Wolken mit den schmutzigen Resten der letzten Schneefelder. Rea schloss die Augen. Hier konnte sie stundenlang sitzen und ihren Gedanken nachhängen.“

Ausschnitte aus drei neuen Deutschschweizer Romanen, in den das Gebirge eine auffällige bis dominante Rolle spielt. Wandern, klettern, ruhen. Unterwegs sein in den Bergen, wohnen daselbst, für immer oder nur in der Freizeit. Sinnsuche auf dem Wanderweg vom Wägital über den Schwialppass hinüber ins Muotatal, in den senkrechten Wänden des Föhrenturms am Bockmattli, auf einer (nicht näher genannten) Alp in den Högern rund um den Vierwaldstättersee: Thomas, Seppli und Rea erleben auf je eigene Art die Berge, die einerseits ihren Horizont einschränken und gleichzeitig eben auch erweitern, weil sie sich mit diesem Högerland auseinandersetzen müssen, in dem ein falscher Tritt, ein falscher Griff, ja ein falscher Gedanke ungewohnte und ungewollte Folgen haben kann.

Cover Bergroman 1

Thomas flieht aus dem Alltag, haut ab aus Ehe und Beruf, lässt die Kinder einfach zurück, schlängelt sich nachts durchs halb überbaute Mittelland, rudert über den Zürichsee, schleicht durchs Wägital und stolpert über die Karrenfelder der Silberen am Pragelpass. Seine Frau Astrid versucht verzweifelnd zu verstehen, verfolgt die Spuren, die Thomas hinterlässt, mit und ohne Polizeihilfe, überholt ihn gar, wenigstens in den Textabschnitten, die abwechselnd sie und ihren Mann zur Hauptperson haben. Und dann? Sei hier nicht verraten. Möglich ist viel, weit über das Land, tief sind die Klüfte, auch diejenigen der Silberen.

Cover Bergroman 2


Seppli hingegen, der mutige Kletterer, hatte noch als Kleinkind mit seiner ledigen Mutter Agnes und vielen Mitgliedern der Familie Dobler fliehen müssen, aus dem Talboden weg auf neues Land, in einen neuen Hof. Sein Vater war ein Italiener, der beim Bau der Staumauer im Wägital arbeitete; bei der Fertigstellung 1925 war sie die höchste Gewichtsstaumauer der Welt. Und der dann abhaute und die junge Mutter zurückliess. Abhauen müssen, die meisten gegen ihren Willen, auch die Doblers und andere Bewohner von Innerthal, als das Talwasser gestaut wurde und der See entstand, zur Stromproduktion und schon bald als neues Ausflugsziel für Städter, die dort hinten Ruhe, Fische und Gipfelglück mit Seeblick suchten. Und dies noch immer finden.

Cover Bergroman 3

Rea ihrerseits weiss nicht, wen sie wirklich suchen soll, ihren Mann Peer oder nicht doch den Absender geheimnisvoll erotischer Botschaften, die zuletzt auf der Alp oben in Erfüllung gehen sollen. Auch Peer verguckt sich abseits ehelicher Pfade in eine Arbeitskollegin, im Kurhaus in den Bergen, an der Kletterwand, im Hotel auf dem Luzerner Stadthügel. Schwindelerregende kleine Fluchten in einem Roman, in dem das Gebirge im Gegensatz zu den beiden andern Werken weniger wortbestimmend, aber eben auch nicht wegzudenken ist.

Peter Stamm: Weit über das Land. S. Fischer, Frankfurt aM 2016, Fr. 29.-
Beat Hüppin: Talwasser. Zytglogge, Basel 2016, Fr. 32.-
Urs Augstburger: Kleine Fluchten. Klett-Cotta, Stuttgart 2015, Fr. 30.-

Heute Dienstag Abend ab 22.25 Uhr auf SRF 1: Literaturclub mit Diskussion über Peter Stamms „Weit über das Land“.

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