Vierwaldstättersee und Gotthard

Dieses Buch bzw. dieser Schuber ist nötig. Wie wir Vierwaldstättersee und Gotthard noch nie gesehen haben! Gerade jetzt, wo wir noch weniger sehen, wenn wir durch den längsten Eisenbahntunnel der Welt rasen. Nicht mal das Kilcheli bzw. die Kirche von Wassen. Und was sonst noch? Fliegende Drachen über dem Pilatus? Haben wir auch noch nie gesehen. Also bitte, zugreifen, wahrscheinlich mit beiden Händen.

„Es kamen langsam, in weiten wallenden grauen Talaren, die Nebelgeister herauf gewallt aus den unergründlich tiefen Schluchten des Gebirgs, umspannten den Verwegenen, der es gewagt, ihr Revier zu betreten, mit ihren trügerischen Schleiern, bis sein strauchelnder Fuss […] hinaustrat in’s Leere, und Ross und Reiter zerschellend auf’s unsichtbare Felsenbette hinunterstürzten.“

Oh heiliger Schrecken! War eine Winterreise über den Gotthard wirklich so schrecklich, ja tödlich, wie die Unterhaltungszeitschrift „Gartenlaube“ 1862 behauptete? Ganz sicher war sie weniger gemütlich als heute, wenn wir in 20 Minuten durch den Basistunnel rasen. Diese Zeit wird nicht reichen, um eine ganz und gar aussergewöhnliche Publikation vollumfänglich zu würdigen und zu geniessen. Nein, in 20 Minuten werden wir grad mal die neue Box ausgepackt und ihren Inhalt oberflächlich angeschaut haben. Aber die Reise von Luzern Richtung Gotthard dauert ja immer noch eine anständige Zeit. Also, packen wir aus, was Christiane Franke, Christina Ljungberg, Barbara Piatti und Yvonne Rogenmoser gemeinsam ausgeheckt, ausgearbeitet und eingepackt haben.

Ein Schuber aus Karton: 22,5 cm hoch, 18,5 cm tief und 5,5 breit. Titel: Vierwaldstättersee & Gotthard. Wie Du diese Landschaft noch nie gesehen hast. Auch in englischer Übersetzung. Darüber der Verlag: Imaginary Wanderings Press – ein vielversprechender Name. Wie das Programm auch, denn auf dem Schuberrücken steht eine 1. Und was ist denn drin? Das verrät der Schuber auch: „Eine Box wie eine Wunderkammer. Zwölf Tableaux voller Spezialeffekte und ein Essayband machen unsichtbare Kulturgeschichte sichtbar: fliegende Drachen über dem Pilaus, wilde Erzählungen aus dem Inneren des Gotthards, Zeitreisen im Hammetschwandlift, utopische und verschwundene Architektur rund um den Vierwaldstättersee und vieles mehr. Entdecke und staune!“

Das tun wir: eine geniale Sache, diese handliche Wunderkammer. In meiner Bibliothek stehen ja zwei, drei Bücher, auch ein paar besondere, auch im Schuber. Schöne Bücher, vorzüglich geschrieben, faszinierend illustriert, überlegt gestaltet. Die Box gehört zu ihnen – und ist doch mehr. Ein analoges Gesamtkunstwerk, ein bibliophiles Designobjekt für Kulturinteressierte und Reisefreudige, für Neugierige und Fingerbastler, für Grosse und Kleine. Die vier Ladies wollten ausprobieren, „wie sich die Kulturgeschichte einer Landschaft auf neuartige Weise erzählen lässt – spielerisch, taktil, interaktiv“, wie es im Begleitbrief heisst. Die Probe ist geglückt, und wie!

Und wir brauchen das beigelegte Tuch im Tableau „Schrecken“ nicht vor die Augen zu halten, wenn wir mit dem walisischen Geistlichen Adam de Usk im Winter 1402 durch die Schöllenenschlucht reisen: „Ich ging […] auf den St. Gotthard und zum Hospiz auf seinem Gipfel – wohin ich in einem Ochsenkarren gebracht wurde, fast zu Tode erfroren im Schnee, und mit verbundenen Augen, um die Schrecknisse der Reise nicht sehen zu müssen.“

Christiane Franke, Christina Ljungberg, Barbara Piatti, Yvonne Rogenmoser: Vierwaldstättersee & Gotthard. Wie Du diese Landschaft noch nie gesehen hast – Lake Lucerne & Gotthard. Like you have never seen this landscape before. Imaginary Wanderings Press, Meggen 2016, Fr. 88.-, www.imaginary-wanderings.com.

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