Bergell. Nur schon der Name an sich ist ein wohliger Klang. Bergell. Die Zunge an den Gaumen drücken und das ‚ell’ in die Länge ziehen. Gleich hier beginnt der Genuss und breitet sich weiter aus in wilder, ungezähmter Natur.
© Annette Frommherz

Die schönsten fünf Tage dieses Sommers gehören uns! Wir sitzen nach der Einsteigertour mit fünf Seillängen auf dem Piz dal Päl und schauen auf die Staumauer hinunter. Bestimmt späht der Hüttenwart der Albignahütte von der Küche aus zu uns hinüber. Er scheint jedenfalls bestens informiert, als wir zurück in der Hütte sind. Für den nächsten Tag haben wir uns die Route ‚Via Classica’ vorgenommen; zu Ehren von Leo Blättler, der diese Route vor 40 Jahren zusammen mit Kaspar Heutschi installiert hat. Da seien sie noch jung und buschper gewesen, wird er mir später sagen. Die acht Seillängen hätten sie in nur zweieinhalb Stunden gebohrt. Also in kürzerer Zeit, als wir schliesslich benötigen, um sie zu erklettern. Gegen Abend sind wir beizeiten zurück, damit wir das Bergtheater nicht verpassen; schliesslich hat es uns in erster Linie deswegen ins Bergell getrieben. ‚Ein Russ im Bergell’ auf Tournée in SAC-Hütten ist ein Projekt, das einzigartiger nicht sein könnte. Zwei Protagonisten im Bühnenbild der Natur, vor der getreuen Kulisse des eigentlichen Geschehens. Bevor ich weiter ins schwärmen komme, nur soviel dazu: wer es verpasst hat, ist selber schuld (bergtheater.ch).
Ein letztes Mal versucht man mir die Fiamma schmackhaft zu machen, die edle Felsnadel und das Wahrzeichen des Bergell. Schön anzuschauen ist sie ja schon, aber für mich vorderhand lieber von unten. So ziehen wir anderntags mit dem Theatertross – die Kostüme und Requisiten werden notabene selber von Hütte zu Hütte getragen – über den steilen Cacciabella-Pass hinunter zur Sciorahütte. Abends wechselt das Bühnenbild. Für den Hintergrund nehmen nun andere Bergkuppen Stellung: der Sciora Dafora und der Punta Pioda und wie sie alle heissen. Das Schauspiel passt sich den Gegebenheiten des neuen Spielorts an. Hier muss man flexibel sein. Den Schauspielern scheint dies zu gefallen. Uns auch. Sehr.
Am nächsten Morgen lassen wir die Theaterleute weiter ziehen. Wir nehmen uns einen weiteren Gipfel vor: den Torre Innominata, den unbekannten Turm. Eigentlich wollten wir das ‚Bügeleisen’ besteigen, den Klassiker im Sciora-Gebiet schlechthin. Aber die Hüttenwartin rät davon ab. Es habe tags zuvor Steinschlag gegeben, es sei zu gefährlich und überall liege Staub. Über die Westkante des Torre Innominata zieht eine 14-Seillängen-Route den Grat entlang hoch. Gute 450 Meter gilt es zu erklettern. Schon der Zustieg zur Route fordert einige Schweisstropfen. Fast zwei Stunden steigen wir mit den schweren Rucksäcken steil über Geröll und Gestein. Den Einstieg finden wir dafür auf Anhieb. Rau ist der Bergeller Granit. Wie feine Nadeln sticht er in die Fingerkuppen. Mein Vorkletterer setzt Bandschlingen, wo die Abstände zu den nächsten Haken gar lang werden, oder er setzt Friends. Je weiter wir klettern, desto schwieriger werden die Seillängen. Risse klettern ist nicht meine Spezialität, dafür bin ich Perfektionistin im Karten falsch zusammenlegen. Aber das ist hier nicht gefragt. Zwei Österreicher, die im Eiltempo hochgeklettert kommen, müssen warten, bis ich nachsteige. Aber genau da ist die Schlüsselstelle, und ich kann mich beim besten Willen und mit meiner ganzen Kraft nicht über die Kuppe hochziehen. Unter uns gesagt: die Herren sind wahrhaftig Gentlemens. Der eine säuselt ein paar besänftigende Worte über meine Aussage, gerade hier hätte ich mir keine Zaungäste gewünscht. Der andere bietet mir gar seine Schultern an, damit ich auf diese stehen kann und so an den vorher unerreichbaren Griff komme. Ich nehme das Angebot an, nachdem sie mir geschworen haben, darüber Stillschweigen zu wahren. Die Disziplin des Schulterstandes nenne ich ab jetzt Freestyle. Als Dank lasse ich die beiden Bergfreunde überholen.
An der anderen Bergseite entlädt sich fast stündlich mächtiges Grollen, und manchmal sehen wir, wo sich die grossen Brocken aus der Wand lösen und hinunterstürzen. Staubwolken hüllen die Stellen ein, wo die Felsmassen aufprallen. Es ist beeindruckend. Wuchtig brüstet sich die Nordkante des Pizzo Badile. Er tut so, als sei er hier der Wichtigste. Unrecht hat er nicht.
Unser Gipfel, den wir endlich erreichen, ist 2927 Meter über Meer. Kaum habe ich einen ruhigeren Atem gefunden, ziehen plötzlich Nebelschwaden auf und packen den Gipfel dicht ein. Der Hüttenwart hat uns empfohlen, uns an der nebenan gelegenen Route abzuseilen, aber ich getraue mich an dieser ausgesetzten Stelle trotz gutem Zureden nicht hinüber. Das Abseilen von unserer Route aus ist luftig und wenig lustig, und ich bin froh, dass der Nebel mir den Blick in die Tiefe erspart. Die Standstellen sind nicht immer leicht zu finden und die Rinnen, über die wir abseilen müssen, sind steinschlaggefährdet. Wir verlieren Zeit, und als wir am Fusse der Wand ankommen, ist es Abend. Noch liegt mehr als eine Stunde Fussweg über Schotter und Steinhaufen vor uns. Wir sind müde, die Knie wacklig, der Weg will nicht enden. In der Sciora-Hütte zeigen die Gastgeber Verständnis für die späten Heimkehrer und sind froh, dass wir heil zurück sind. Mit einer Selbstverständlichkeit tischen sie uns Suppe und Gehacktes mit Hörnli auf, dass es uns warm ums Herz wird. Erst jetzt merken wir, dass wir seit dem Frühstück kaum etwas gegessen haben.
Nun, am Schreibtisch, ohne Wind und Nebel, nach all den Strapazen, wünschte ich mich zurück an die rauen Wände, an diese besonders markanten, scharfkantigen Felsen, wie sie woanders so schnell nicht zu finden sind. Bergell. Das ‚ell’ einfach mit der Zunge an den Gaumen drücken.
