Trendsportart Bouldern: ein italienisches Buch erzählt seine Geschichte.
«It must be admitted that the exercise of boulder-climbing is almost purely athletic, but the training to nerve and muscle may stand the climber in good stead upon some more important occasion – and moreover it is comparatively free from danger.»
Boulder-Climbing – oder wie man heute sagt und schreibt: Bouldern – im Januar 1896. Der Beginn einer sehr beliebten bergsportlichen Tätigkeit, jedenfalls mit diesem Begriff, zu deutsch: Klettern auf Felsblöcken. Klar, als Ernest Cézanne und Xavier Blanc 1874 im Forêt de Fontainebleau bei Paris den Club Alpin Français gründeten, spazierten die Mitgründer durch den mit Felsblöcken durchsetzten Wald und bestiegen wohl auch ein paar von ihnen. Aber das bewusste Klettern in Bleau – so wird dieser Ort meistens genannt – begann erst um 1900, als Studenten Ausflüge dorthin organisierten. Rochassiers und dann Bleausards nannten sie sich. Seither wurde Bleau zum Mekka des Boulderns und ist es immer noch, trotz schier unzähligen anderen Hotspots auf der Welt.
Als einer der ersten prägte T. Fraser S. Campbell den Begriff in seinem mit drei Zeichnungen bebilderten Artikel «On Boulders» im ersten Heft des vierten Jahrgangs des «Scotish Mountaineering Club Journal» https://simrich.ams3.digitaloceanspaces.com/SMCJ/Number%2019%20to%2024%20-%20Vol%20%204%20-%201896-1897.pdf. «Man muss zugeben, dass das Klettern auf Felsblöcken fast ausschliesslich eine sportliche Betätigung ist, aber das Training für Nerven und Muskeln kann dem Kletterer in manchen wichtigeren Situationen zugute kommen – und ausserdem ist es vergleichsweise gefahrlos.» Klar, Bouldern wurde damals meistens noch als Training für grössere Klettertouren angesehen, noch nicht wirklich als Ziel in sich, doch das war in Fontainebleau anfänglich ebenfalls so.
Ein Zeitgenosse von Campbell war der Engländer Oscar Eckenstein (1859–1921), bei uns eher bekannt als Erfinder und Verbesserer von Alpinmaterial, nämlich von Steigeisen mit zehn Zacken sowie von Pickeln, Zelten und Seilknoten; vielleicht auch als Erstbesteiger des Stecknadelhorns sowie als Leiter der Expedition zum K2 im 1902. Doch in den heimatlichen Bergen brillierte Eckenstein mit schwierigen Klettereien an Wänden – und eben an Blöcken. «Il primo maestro del bouldering»: So nennt ihn Alberto Milani im Buch «Il tempo dei sogni. Storia del bouldering mondiale». Für Eckenstein war Bouldern mehr als nur Training oder Zeitvertreib, sondern erfüllende sportliche Tätigkeit.
Dass Milani sein Buch «Die Zeit der Träume» nennt, liegt nicht an einem schönen Titel. Sondern am 28. Oktober 2000. An diesem Samstag konnte der Westschweizer Fred Nicole erstmals Dreamtime im Cresciano in der Tessiner Riviera ganz klettern – vom Sitzstart rechts unten bis zum Mantle links oben 21 Züge durch eine 45 Grad überhängende Wand eines mächtigen Gneisblocks. Er bewerte die Route mit 8c – ein neues Niveau war erreicht. Und wen sehen wir auf dem Cover von «ll tempo dei sogni»? Fred Nicole in der mytischen Linie Karma in Fontainebleau, als Spotter (die Person, die mit den Armen einen möglichen Sturz des Kletterers abfangen soll) Jacky Godoffe – ein weiterer berühmter Boulderer. Ins Tennis übertragen: ein Match zwischen Federer und Nadal. Klar, um das Buch von Milani zu lesen, braucht es schon etwas Können im Italienischen. Wenn man aber weiss, was sasso heisst, versteht man seinen Aufruf am Schluss bestens: «Buon Sassismo a tutti!».
In Milanis Buch finden sich viele Fotos, gerade auch von Gebieten, die nicht so bekannt sind. Eine Blockkletterei hat er nicht aufgenommen. Sie vollzieht sich allerdings nicht auf einem natürlich belassenen Felsen, sondern auf dem Rest eines Kalksteinhügels, der zu einem Menschenkopf auf einem Löwenkörper gehauen wurde: die grosse Sphinx von Gizeh. Wie ihre Nase abgebrochen ist, erfahren wir in «Astérix et Cléopâtre» von 1965. Obélix klettert an ihrem Gesicht hoch, doch die Nase hält seinem Gewicht nicht stand.
Alberto Milani: Il tempo dei sogni. Storia del bouldering mondiale. Versante Sud Edizioni, Collana I Rampicanti, Milano 2024. € 20,00.
































