Weit wandern mit Werner

Wandern in den Alpen des Piemonts. Als Begleiter zum Finden und Verstehen des Weges empfehlen sich unbedingt die Führer von Werner Bätzing.

«Die Grande Traversata delle Alpi kann ‹ein Urlaubserlebnis vermitteln, das heute ziemlich selten geworden ist, nämlich die Entdeckung einer grossartigen hochalpinen Landschaft ohne Massentourismus›, schreibt der Alpin- und Kulturgeograph Werner Bätzing, einer der besten Kenner der italienischen Alpen und Autor der beiden neu bzw. gänzlich überarbeiteten Führerbändchen zur GTA. ‹Bändchen› bezieht sich allerdings nur auf ihre Rucksacktauglichkeit. Denn sonst sind es grosse Wanderführer, was touristische Vorder- und sachliche Hintergrundinformation angeht. Wer immer auch die Grande Traversata delle Alpi unter die Füsse nehmen will, die beiden Bätzing-Führer gehören ebenso dazu wie gute Wanderschuhe.»

So rezensierte ich das zweibändige Wanderbuch „Grande Traversata delle Alpi GTA“ von Werner Bätzing im Februar-Heft 1995 des Monatsbulletins des Schweizer Alpen-Clubs. An dieser Einschätzung zu den beiden Führern für den Weitwanderweg durch die piemontesischen Alpen hat sich nichts geändert. Ausser dass aus den Bändchen Bände geworden sind, die jedoch mit der Abmessung 12 x 19 cm immer noch in den Rucksack passen. Der Band Norden mit dem Weg vom Wallis ins Susa-Tal bei Turin ist 300 Gramm leicht, der Band Süden mit dem Weg vom Susa-Tal ans Mittelmeer 380 Gramm. Zusammen ergibt das 520 Seiten voller Geschichten und Infos zu einem der überzeugendsten Beispiele für einen sanften Tourismus im ganzen Alpenraum. Werner Bätzing, Jahrgang 1949, bis 2014 Professor für Kulturgeografie an der Uni Erlangen-Nürnberg und seit 1977 wandernd und analysierend in den Alpen unterwegs, veröffentlichte die GTA-Führer erstmals 1986/87 im Verlag „Der Weitwanderer“. Seit 2003 erscheinen sie im Zürcher Rotpunktverlag, seit März 2024 sind sie in der 9. Auflage greifbar.

„Für die neue Auflage habe ich erneute zahlreiche Aktualisierungen (z.B. neue Telefonnummern von Unterkünften, geänderte Internet-Seiten von Busfahrplänen, Angaben zur touristischen und zur Bevölkerungsentwicklung) und Änderungen (Wechsel bei den posti tappa, Veränderungen am Weg, neue Kartengrundlagen) vorgenommen“, schreibt Bätzing in seinem jährlichen Rundbrief. „Inhaltlich besonders wichtig: In der 8. Auflage (2018) hatte ich die Projekte ‚Sweet Mountains‘ und ‚Alpi del Mediterraneo‘ kurz dargestellt, die großflächig einen umwelt- und sozialverträglichen Tourismus im Piemont fördern wollten und die auch die GTA im Kontext der Region zusätzlich gefördert hätten. Inzwischen sind beide Projekte leider eingestellt worden. Die GTA dagegen funktioniert weiterhin wie gewohnt.“ Grund genug, die GTA endlich unter die Füsse zu nehmen. Man muss ja nicht gleich die 26 nördlichen und/oder die 34 südlichen Etappen aneinander hängen; die GTA lässt sich gut in wöchentlichen Abschnitten unternehmen. Zum Beispiel in sieben Tagen von der Valle Anzasca über sieben Pässe nach Alagna in der Val Sesia. Oder in fünf Etappen vom Kern der Ligurischen Alpen entlang der italienisch-französischen Grenze nach Ventimiglia.

Und weil es uns so fest dorthin zieht, wo der Alpenbogen ins Mittelmeer taucht, packen wir noch gleich einen anderen Bätzing-Führer in den Rucksack – oder legen ihn vorerst zuoberst auf den Beistelltisch. 2006 erschien mit „Die Seealpen“ das erste von fünf Wanderbüchern für Teilgebiete der piemontesischen Alpen, die Werner Bätzing zusammen mit Michael Kleider verfasste. Nun sind „Die Seealpen“ in der dritten Auflage herausgekommen, 270 Gramm mit 224 Seiten. Dazu nochmals Bätzing in seinem Rundbrief: „Die Seealpen sind eine sehr attraktive Alpenregion mit den südlichsten Dreitausendern und den südlichsten Gletschern der Alpen (auf Grund der Klimaerwärmung sind sie jedoch kurz vor dem Verschwinden), die eine besonders große Artenvielfalt (Mischung alpiner, mediterraner und sogar pannonischer Arten) und rund dreißig Endemiten (Pflanzenarten, die nur hier vorkommen) besitzt und die viele außergewöhnliche Fernblicke sowohl auf das Mittelmeer wie auf den Alpenbogen bis zum Monte Rosa ermöglicht.“ Worauf warten wir noch? Ab in den Süden! Mit einem bis drei neuen „Bändchen“ im Rucksack.

Werner Bätzing: Grande Traversata delle Alpi GTA. Teil 1: Der Norden. Vom Wallis ins Susa-Tal. Teil 2: Der Süden. Vom Susa-Tal ans Mittelmeer. Rotpunktverlag, Zürich 2024. Je Fr. 35.-
Werner Bätzing, Michael Kleider: Die Seealpen. Naturpark-Wanderungen zwischen Piemont und Côte d’Azur. Rotpunktverlag, Zürich 2024. Fr. 35.-

(Alpen-)Gärten

Sonne verspricht der Wetterbericht über die Auffahrtstage. Ab in den Garten, in den eigenen oder, weniger anstrengend, einen fremden.

«Edelweiss (Leontopodium alpinum). En médecine vétérinaire populaire, il servait à traiter les diarrhées des animaux, mais n’avait pas d’usages chez les humains. L’industrie du cosmétique a identifié de nombreux antioxydants fabriqués par la plante pour se protéger du stress environnemental lié à l’altitude. On l’a donc depuis intégrée dans de nombreuses crèmes anti-âge, mais à partir d’une filière de culture car la plante est relativement rare dans la nature. L’edelweiss permet aussi de réaliser une liqueur d’agrément d’une intense couleur verte.»

Armes Edelweiss! Und es geht hier nur um die Pflanze. Nicht um alles andere, wofür der Name auch gebraucht wurde und wird. Allein beim Scrollen durch die Begriffserklärungsseite https://de.wikipedia.org/wiki/Edelweiß wird einem schwindlig, wie nach einem Gläschen zu viel vom Likör mit der intensiv grünen Farbe. L’edelweiss also: Die gesuchte alpine Blume gegen Durchfall bei Tieren und gegen das Älteraussehen bei Menschen heisst im Französischen gleich wie im Deutschen. Seine oben erwähnten Eigenschaften sind beim Buchstaben E im Beitrag „P comme pharmacopée“ im Frühlingsheft der Zeitschrift „L’Alpe“ aufgelistet, die sich den Gärten widmet. Dieses pflanzliche ABC wächst von A wie Arnica über den G wie Génépi bis V wie Vulnéraire des Chartreux – schon wieder ein Schnaps, non-de-Dieu! Aber das Gartenheft liefert nicht nur Verdauungstipps, mais non. Schmackhaft das Kapitel „Dis-moi pourquoi tu jardines“. Bitter dasjenige zu Henry Correvon: Der Gründer der Alpengärten La Linnaea beim Col du Grand-Saint-Bernard und La Rambertia auf den Rochers-de-Naye war auch ein (zu) eifriger Verkäufer von Alpenpflanzen. Aufgefrischt die Zusammenstellung zu den Alpengärten; in den Alpen wächst ein Drittel der europäischen Flora. Blühend das Interview zum wissenschaftlichen Garten auf dem Col du Lautaret. Schwarzweiss das Porträt von Armand Schulthess, dessen ganz besonderer Garten in Auressio im Valle Onsernone in der Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ von Max Frisch eine wichtige Rolle spielt. Bunt die Galerie mit Gartengemälden bekannter und unbekannter Künstler; doppelseitig der „Bauerngarten“ von Cuno Amiet. Wie immer überzeugt auch die jüngste Ausgabe von „L’Alpe“ mit den Illustrationen.

La Rambertia, La Linnaea, die Alpengärten Schatzalp und Schynige Platte, aber auch der Landschaftsgarten Alpenblick in Kerns oder das Garten Museum Walserhaus in Bosco-Gurin. Sie sind enthalten im „Gartenführer Schweiz“, der 330 Gärten und Parks vorstellt – eine Einladung, die Schweiz neu zu entdecken. Etwas Vorbereitung braucht es, oft muss man sich anmelden, vor allem bei den privaten Gärten. Selbstverständlich hat Sarah Fasolin, Gartenjournalistin und Zeithistorikerin, notiert, wo man sich melden muss. Wie überhaupt die Infos passen, inklusive Angaben zu Führungen, öV, Rollstuhlgängigkeit, Pflanzenverkauf etc. Dazu Übersichtskarten und immer ein Foto pro Garten. Aber darüberhinaus ist der „Gartenführer Schweiz“ ein Geschichtsbuch: einerseits zu all den vorgestellten Gärten, mindestens einem aus jedem der 26 Kantone, und andererseits genau dazu, was jeden der Kantone gartenmässig auszeichnet. Das dicke Buch ist also auch eines zu einer ganz besonderen, sicher wenig bekannten Geschichte unseres Landes, und natürlich ebenfalls zur Geschichte der Gartenbaukunst ganz allgemein. Schon nur beim Durchblättern in der Buchhandlung kommt Freude auf. Wie denn erst zuhause auf dem schattigen Balkon mit dem aufgestängelten Edelweiss.

Jardins. L’Alpe, N° 104, printemps 2024. Éditions Glénat Grenoble. Fr. 26.-
Sarah Fasolin: Gartenführer Schweiz. Die 330 schönsten Gärten und Parks. AT Verlag, Aarau 2024. Fr. 38.-

Ella Maillart

Bei der diesjährigen Olympiade in Paris beginnt man, die Segel zu ordnen. Vor hundert Jahren starteten die Sommerspiele bereits am 4. Mai. Mit dabei eine Genfer Seglerin, als einzige Frau bei den Wettkämpfen auf der Seine.

«Il faut tenir, tenir, TENIR… jusqu’à ce qu’on ait gagné l’abri d’une crique sûre. Tenir à tout prix. Et cela va demander deux heures d’épuisante tension avec encore un louvoyage délicat dans la traîtrise de claques de vent imprévisibles… Mais lorsqu’on est enfin amarré  à un corps-mort, voiles amenées en vrac, on vit un instant sans pareil… On est fier d’avoir tenu le coup.»

Halten, durchhalten, um jeden Preis. Bis man in Sicherheit ist. Im Windschatten, in einem Unterstand, in einer Hütte, in einer Bucht. Das Boot endlich an einem Ankerplatz festgemacht, die Segel eingeholt. Oder, um ins Gebirge zurückzukehren: das Seil aufgerollt. Bergsteigen und Segeln, vertikal vs. horizontal, aber existenziell beides, potentiell lebensgefährlich ebenfalls. Durchhalten um jeden Preis. Den Pickel halten, die Pinne halten. Im Sturm am Berg. Im Sturm am Wasser. Wie am 22. Juli 1924, als der Joran, dieser tückische, manchmal orkanartige Fallwind vom Jura her, den Lac Léman aufwühlte. Aber die beiden Seglerinnen auf der Gipsy hielten durch, während andere Boote die Regatta aufgaben. Hermine de Saussure und Ella Maillart erhielten gar einen Spezialpreis des Cercle nautique de Genève, für „leurs qualités presque viriles“! Nun, Ella Maillart – von ihr stammt das Einstiegszitat – kannte sich mit gendersportlichen Fragen und Vergleichen bestens aus. Und segeln konnte sie auch, nicht nur auf dem Lac Léman, sondern auch auf der Seine bei Paris.

Ella Maillart (1903–1997) aus Genf ist vor allem als Reiseschriftstellerin bekannt. Aber sie war auch eine Sportlerin erstens Ranges. 1922 gründete sie den ersten Landhockey-Club für Frauen in der Westschweiz, als Skiläuferin war sie Mitglied der Schweizer  Nationalmannschaft. Das Segeln lernte sie in jugendlichen Jahren kennen, weil ihr Vater im Sommer jeweils ein Haus in Le Creux-de-Genthod bei Genf mietete. Dort freundete sie sich mit Hermine de Saussure (1901–1984) an, der Ur-Ur-Enkelin von Horace-Bénédict de Saussure, dem Drittbesteiger des Mont Blanc. Miette und Ella machten nicht nur die Tour du Lac auf verschiedenen Boot, sondern sorgten auch mit der Fahrt nach Korsika im Juni 1923 für Aufsehen, in nautischen Kreisen und überhaupt. Zwei so junge Frauen alleine auf einer Segeljacht im Mittelmeer, mon Dieu!

All das erfahren wir im neuen Bildband „Ella Maillart Navigatrice. Libre comme l’eau” von Carinne Bertola. Ein Werk für Seglerinnen. Bergsportler dürfen mitsegeln, auch wenn sie wohl nicht jeden Fachbegriff verstehen werden. Und sonst gibt‘s das Buch „Vagabundin des Meeres. Die Segel-Abenteuer einer Frau“, allerdings nur noch antiquarisch. In „Leben ohne Rast. Eine Frau fährt durch die Welt“ (1952) erzählt Ella Maillart ebenfalls, wie sie zum Segelsport gefunden hat. Dieses Buch ist vergriffen, aber die französische Ausgabe „Crosières et caravanes“ ist als Payot-Taschenbuch erhältlich, beispielweise in der Librairie Payot in Morges. Und dort ist noch bis zum 2. Juni die kleine, feine Ausstellung „Ella Maillart, navigatrice“ im Musée Bolle zu sehen. Die Teilnahme von Ella Maillart an den Olympischen Sommerspielen in Paris von 1924 ist selbstverständlich auch ein Thema; sie war die erste Frau, die ein Segelboot in einem olympischen Wettbewerb steuerte. Leider schied sie im Halbfinal aus und wurde neunte bei 17 Teilnehmern. „Ne pas participer aux finales me fut très dur“, schreibt sie in „Crosières et caravanes“. Die zweite Sommerolympiade von Paris – die erste fand im Jahr 1900 statt – startete am 4. Mai 1924 und dauerte bis zum 27. Juli. Kein Zufall, dass die dritte am 26. Juli 2024 beginnen wird.

Carinne Bertola: Ella Maillart Navigatrice. Libre comme l’eau. Édition Glénat, Grenoble 2024. € 36,00.
Ella Maillart: Vagabundin des Meeres. Die Segel-Abenteuer einer Frau. Edition Erdmann, 1991. Bei www.zvab.com

Ausstellung „Ella Maillart, navigatrice“ im Musée Bolle an der Rue Louis-de-Savoie 73-75 in der Altstadt von Morges. Offen Mittwoch bis Sonntag, 14 bis 17 Uhr. Noch bis 2. Juni 2024. https://museebolle.ch/expositions/ella-maillart-navigatrice/

Jahreszeitenkrimis

«Der April, der April, der macht, was er will.» Machen wir auch und lesen Krimis.

«Anfangs April meldete sich der Winter zurück, es fiel ein halber Meter Neuschnee. Unglaublich, dachte Kauz, als er die Fensterläden aufstiess. Es war ein Anblick wie im tiefsten Winter. So etwas hätte man sich an Weihnachten gewünscht. Aber da war der Schnee in den letzten Jahren oftmals ausgeblieben. Jetzt war er irgendwie fehl am Platz. Kauz ging mit Max ins Freie.»

So beginnt das Kapitel „Aprilwetter“. Kennen wir bestens, dieses Wetter. Gerade in diesem Jahr. Es soll den Romanfiguren nicht besser ergehen als uns selbst. Dabei sind wir doch vor ein paar Tagen im T-Shirt spazieren gegangen. Frühling eben. Wie warten wir jeweils darauf. Aber wie haben wir auf diesen ganz speziellen Frühling gewartet! Auf diesen, in dem Kauz mit Max unterwegs ist. Im Goms, dem obersten Abschnitt des Walliser Rhonetals. Kauz Walpen, der Üsserschwiizer Ex-Polizist mit Gommer Wurzeln, ermittelte erstmals im Sommer 2016 in seiner alten Heimat, im Jahr darauf tat er dies überraschenderweise im Winter. 2019 folgte, fast aprilwettermässig, der Herbst. Und nun endlich ist er da, der Kriminalroman „Gommer Frühling“ von Kaspar Wolfensberger.

Grün-schwarzer Umschlag, fünf Zentimeter dick, 533 Seiten. Ein dubioses Seniorenhaus mit dem Namen Primavera; ein Tauwetter, das am Dorfrand eine Leiche zutage fördert; ein Pfarrer, der plötzlich tot zusammenbricht; eine fromme Oberin, die nur so tut; überhaupt die katholische Kirche und ihre Fälle; die Tulipa grengiolensis. Nein, diese Tulpe, die nur beim Dorf Grengiols wächst, hat nichts mit der Aufklärung der Kriminalfälle zu tun. Aber so sind die Romane von Wolfensberger: breit gefächert, Tal- und Weltgeschichten, diesmal bis Afrika, zurück in die 1970er Jahre. Das Grand Hotel Gletsch und der Rhonegletscher spielen eine Rolle, Weisshorn und Galenstock stehen abwechselnd am Horizont. An dem lange düstere Wolken hängen, bis Kauz die wirklich verwickelten Fälle löst, mit Hilfe „seiner“ Leute. Wir kennen sie aus den drei andern Bänden, doch es sind neue, fein gezeichnete Personen hinzugekommen. Und Max findet eine Freundin – eine rote Katze. „Der Gommer Frühling ist immer für eine Überraschung gut, nicht wahr?“, fragt Kauz seinen Hund auf Seite 285.

«Im Winter kam die Sonne erst gegen Mittag über den Bergkamm, im Sommer deutlich früher. Wenn an Tagen wie an diesem Vormittag Ende Juni Nebel den Alpenkamm verhüllte, kam bei Rahel eine eigenartige Stimmung auf, als hätte bereits der Herbst begonnen.»

Rahel Reinhart ist neu bei der Polizei in Altdorf. Und schon muss sie ermitteln im Fall eines vermissten Managers, der als Leiche im Göscheneralpsee gefunden wird. Er war an einem umstrittenen Projekt für ein Luxus-Baumhotel am Urnersee beteiligt, und genau dort kommt es zu einem Brand. Martin Widmer zündelt in „Finsternis am Vierwaldstättersee“ gerne mit der Aktualität. Aber das konnte er nicht wissen, dass Investor Samih Sawiris, der ein sehr umstrittenes Bauprojekt auf der Halbinsel Isleten durchziehen will, Mitte April 2024 sechs mächtige Bäume fällen liess, die am Ufer des Urnersees auf seinem Land standen. Widmers siedelte seinen zweiten Krimi zum Vierwaldstättersee an sechs verschiedenen Schauplätzen an; der letzte ist das Hospiz San Gottardo. In diesem Kapitel fällt ein Satz (nicht Schuss…), den man aus der gebirgigen Kriminalliteratur bestens kennt: „Hatte sie ihm einen Stoß gegeben?“ Pat Hunger kann sich nicht erinnern, nimmt aber beim Weggehen vom Tatort noch den Sonnenhut des Opfers mit. Sommer also, wenn ein solcher Hut gebraucht wird.

«Bald mündete der Forstweg in einen steilen Wiesenhang, dessen Grün in mildes Sonnenlicht getaucht war. ‹Das war früher einmal alles Skipiste. Kannst dich noch erinnern, Bua?›, rief mein Vater nach hinten zu mir, worauf ich nur kurz atemlos nicken konnte, hatte er doch einige Wandergruppen überholen müssen und wir mit ihm. Es war mir jetzt so heiß geworden, dass ich sogar den Pullover auszog und im T-Shirt weiterging. Und das im Dezember!»

Im Winter, in München und im zuweilen doch verschneiten Gebirge ist Hauptkommissar Joe Bichelmair unterwegs. Wie schon in „Wenn er fällt, dann stirbt er“, lässt Marion Ambros ihren Helden in „Tote morden besser“ wieder ganz schön schwitzen – und frieren selbstverständlich ebenfalls. Ein verschwundener Star-Kletterer, eine bezaubernde Jasmin (dabei liebt Joe doch eigentlich seine Paula), die obligate Lawine und viel Münchner Mucke beleben diesen Alpenkrimi. Auf Skitour geht’s auch, denn der Sessellift ist nicht mehr in Betrieb, und den Schlepplift hat man schon vor Jahren abgebaut. Armer Joe, dabei hat er sich so auf diesen Ausflug mit Jasmin gefreut.

«Um fünf hatten Henrik und ich Wanderkleidung angezogen. Ich band meine blonden Haare zu einem festen Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in meine Turnschuhe. Die Stiefel hingen zusammengeknotet über dem Rucksack, den ich gleich darauf aufsetzte. Henrik tat es mir nach. Wir schlossen die Wohnung ab und gingen zum Hauptbahnhof. Das schöne Wetter hatte sich gehalten, die Luft war klar und warm.“

Anna freut sich ungemein auf das herbstliche Trekking, diesmal im Sarek, dem wilden Nationalpark im schwedischen Teil von Lappland. Mit dabei wie schon oft ihr Verlobter Henrik und ihre beste Freundin Milena sowie erstmals deren neuer Freund Jacob. Ob das gut kommt? Der Thriller „Der Ausflug. Nur einer kehrt zurück“ von Ulf Kvensler beginnt mit dem Funkverkehr zwischen einem Ambulanzhelikopter und einem Krankenhaus, zum Fund einer Frau, unterkühlt, mit Schnittwunden, gebrochenem Arm, aber auch Würgemalen am Hals. Was ist passiert? Und kehrte sie als einzige zurück? Das erfahren wir auf den nächsten 450 Seiten. Aber nicht linear, sondern mit geschickt eingesetzten Vor- und Rückblenden, so dass wir immer weniger auf sicherem Boden stehen. Hochspannend bis zum letzten Satz: „Am nächsten Tag fällt der erste Schnee.“

Kaspar Wolfensberger: Gommer Frühling. Bilgerverlag, Zürich 2024. Fr. 39.-
Martin Widmer: Finsternis am Vierwaldstättersee. Emons Verlag, Köln 2023. € 16,00.
Marion Ambros: Tote morden besser. Rother Verlag, München 2023. € 14,90.
Ulf Kvensler: Der Ausflug. Nur einer kehrt zurück. Penguin Verlag, München 2024. € 17,00.

Und noch ein Hinweis in eigener Sache. Für „alpinwelt“, das Bergmagazin für München & Oberland des Deutschen Alpenverein, verfasste ich den Beitrag Höhere Gewalt. Der Bergkrimi boomt. Das Heft 1/2024 mit dem Schwerpunkt „Tatort Berg. Über Bergkrimis und Kriminalität am Berg“ kann über diesen Link heruntergeladen werden: www.alpenverein-muenchen-oberland.de/alpinwelt

Schauplatz Alpen

Lese- und Wanderbuch in einem, präsentiert mit tollen Fotos. Das neue Buch von Karin Steinbach Tarnutzer geht vor allem in der östlichen Hälfte der Schweiz auf Tour.

«Nach so vielen Jahren mit Seil und Kletterschuhen, Eispickel und Steigeisen ist der langsamere Rhythmus des Wanderns für mich eine Neuentdeckung. In leichterem Gelände geht es sich anders, ich mache bewusstere Pausen und geniesse die Bewegung ohne Zeitdruck. Das schafft Raum fürs Entdecken und ermöglicht es mir, Beobachtungen festzuhalten. Ich mache viele Fotos als visuelle Erinnerung, vermerke auf der Karte wichtige Orte und mögliche Alternativrouten. In dieser Hinsicht bin ich etwas altmodisch und drucke mir immer eine Papierkarte aus. So entdeckt man aber auch abgelegene und wenig begangene Pfade, die ganz neue Perspektiven eröffnen. Zu Hause schütte ich dann den Rucksack mit Bildern, Erinnerungen und Erlebnissen aus und setzte das Puzzle wieder so zusammen, dass andere daran teilhaben können.»

Das können sie – bestens! Und erst noch ganz unterschiedlich. Auf 264 Seiten im druckfrischen Buch „Schauplatz Alpen. Reportagen aus den Schweizer Bergen – mit 45 Wanderungen“. Dafür hat Karin Steinbach Tarnutzer – freie Journalistin, Autorin und Lektorin aus München und St. Gallen, bekannt geworden durch die Ueli-Steck-Bücher – 15 ihrer Reportagen ausgewählt, die sie seit zwölf Jahren für die Zeitschrift GEO schreibt, immer mit Schauplatz Schweiz. Und zu diesen Reportagen stellt sie nun jeweils je zwei bis vier Tourenvorschläge, damit die Reportagen mit eigenen Erlebnissen vertieft werden können. Wandern als neue Form bergsportlich-publizistischer Aktivität für Karin, wie sie im Interview in der Frühlingsausgabe der Transa-Zeitschrift „Four Seasons“ verrät.

Da kommen wir Andern also, beim Lesen und beim Gehen, in den Triassic Park im Parc Ela und zur Wallfahrtskirche Ziteil im Bündnerland, zu Permakulturprojekten im Appenzell-Innerrhoden, zu einer unterirdischen Chipfabrik im Gonzen, in die Stiftung Felsentor auf halber Höhe der Rigi, zu Hochspannungsleitungen beim Pumpspeicherwerk Limmern im Glarnerland. Eine der dortigen Wanderungen nimmt Tuchfühlung mit dem Tödi auf, der auch das Titelbild ziert – schön passend zu 200 Jahre Erstbesteigung, die in diesem Jahr hoch gefeiert wird (mehr dazu in einem späteren Buch der Woche). Von den 15 Schauplätzen mit dazugehörigen Touren liegen fünf in Graubünden, drei in der Zentralschweiz, zwei im St. Galler Rheintal, je einer im Appenzellerland, im Glarnerland, im zürcherischen Sihlwald, in den Berner und in den Walliser Alpen. Immer werden die Reportagen und auch die Wanderungen mit tollen Fotos präsentiert. Was aber fehlt, sind Karten, damit man sich bequemer orientieren kann, wohin die mit allen nötigen (wander-)touristischen Infos beschriebenen Touren führen.

Auf die Frage, welche Geschichte sie besonders beeindruckt hat, antwortete Karin Steinbach Tarnutzer im Transa-Interview: „Als ich einen Urner Wildheuer bei seiner Arbeit begleitete. Die Wildheuer schneiden Gras in hoch gelegenen, steilen Wiesen, die mit Tieren schwierig oder gar nicht erreichbar sind – eine jahrhundertalte Tradition im Alpenraum. Schon der Zustieg zu dem Hang, den er an diesem Tag mähte, war recht abenteuerlich und nicht leicht zu finden. Ohne Schwindelfreiheit und Trittsicherheit geht es da nicht. Die Nacht haben wir in einer sehr einfachen Wildheuerhütte verbracht, kaum mehr als ein hölzerner Verschlag unter einem Felsen mit einer offenen Feuerstelle – dafür mit fantastischem Panorama. Solche Erlebnisse wollte ich in Worten einfangen und für andere literarisch nacherlebbar machen.“

Karin Steinbach Tarnutzer: Schauplatz Alpen. Reportagen aus den Schweizer Bergen  – mit 45 Wanderungen. Mit Reportagefotos von Robert Bösch, Gaëtan Bally, Bruno Augsburger, Christian Beutler und Anthony Anex. AT Verlag, Aarau 2024. Fr. 44.-

Lesungen mit Karin Steinbach Tarnutzer zu „Schauplatz Alpen“, dreimal an einem Donnerstag: 18. April, 20.15 Uhr, in der Transa Filiale Zürich Europaallee; 25. April, 19 Uhr, in der Transa Filiale St. Gallen; 2. Mai, 19 Uhr, im Restaurant Myle ein paar Schritte neben der Transa Filiale Bern. Eintritt frei, Anmeldung hier: www.transa.ch/de/events/schauplatz-alpen-eine-lesung-mit-karin-steinbach-tarnutzer/

Liebe und böse Berge

Zwei ganz unterschiedliche Bücher, die durch einen Gipfel verbunden sind, der zur roten Liste des gefährdeten Welterbes der UNESCO gehört und der gleichzeitig Menschen gefährdet.

«Hier herrsche ich. Seit über 500 Jahren sitze ich in meiner Nische, dort, wo es in den Berg hinein geht. Meine Nase ist schwarz von den vielen Zigaretten, die sie mir anstecken, zwischen meinen Beinen steht die Flasche mit Zuckerrohrschnaps und die Tüte mit Coca-Blättern, meine Hörner sind mit bunten Luftschlangen behängt. Dies alles und das Lamablut, das sie um mich herum verschütten, soll mich gnädig stimmen. Ich soll sie beschützen. Ich bin der Tió, der Teufel, der Herrscher hier im Berg. […]
Klack, Klack, Klack, das Hämmern tönt von außen zu mir herein, dort sitzen die Frauen vor den Mineneingängen und klopfen über ihren Röcken das wenige Erz von den Gesteinsbrocken, die die Männer nach der Explosion auf dem Berg rausschaffen. Einmal in der Woche kommt ein Lastwagen und holt das Erz. 10 Dollar gibt es pro Tonne. Dann machen die Männer Pause. Wortlos hocken sie sich zu mir. Sie kauen Coca und rauchen, ich rauche mit ihnen. Wir harren aus, wir – und der Tod.»

Anfang und Ende des Textes zum 28. Berg, zum Cerro Rico (4800 m), im Buch „Berge. 35 Geschichten zwischen unten und oben“ von Lucia Jay von Seldeneck (Text) und Florian Weiß (Illustrationen). Vor dem Silberberg von Potosí in Bolivien stellen die beiden den Uschba vor, anschliessend den Mont Blanc, immer zu einem passenden Thema sowie mit einigen lexikalischen Angaben. Mit dabei in diesem liebevoll und witzig gemachten Lese- und Zeichnungsbuch sind vier helvetische Gipfel: erwartet Monte Verità (Nr. 3) und Matterhorn (Nr. 25), überraschend als Nr. 20 das Wellhorn (3191 m) in den Berner und als Nr. 23 die Pointe Burnaby (4134 m) in den Walliser Alpen, und zwar mit den Geschichten „Wer möchte schon schreckliche Unholde auf Gemälden betrachten“ bzw. „Stop her!“. Tiefster Gipfel ist der künstliche Fliegeberg (59 m) in Berlin, höchster der fiktive Mont Analogue. Viel Spass beim Abhaken! Wobei man den Cerro Rico besser weglässt: Er gilt als der Berg, der Menschen frisst.

Genau so heisst auch das Buch von Ander Izagirre: Der Berg, der Menschen frisst. In den Minen des bolivianischen Hochlandes.“ Anhand der vierzehnjährigen Halbwaise Alicia, ihrer Familie und des Ortes, an dem sie lebt, erzählt der spanische Journalist die Geschichte des „Rohstoffsegens“ in Bolivien: von den spanischen Eroberern, die Mineralien in Sklavenarbeit abbauen liessen, über den Aufstieg einer lokalen Oligarchie im 19. Jahrhundert bis hin zu einer Reihe von Militärdiktaturen, oft installiert mithilfe der USA, um die Rohstoffversorgung des Nordens zu sichern. Nicht gesichert ist aber das Leben von Alicia, die für zwei Euro pro Nacht einen Wagen voller Steine durch die unterirdischen Stollen schiebt, um die Familie mitzuernähren. Der giftige Staub der Mine schwebt in der Luft, die sie einatmet, und sickert ins Wasser, das sie trinkt. Und das auf 4400 Metern, also auf einer Höhe, auf der in den Alpen die Gletscher noch ein paar Jahrzehnte am Leben bleiben werden. „Der Berg, der Menschen frisst“ ist ein buchstäblich atemberaubendes Bergbuch.

Lucia Jay von Seldeneck, Florian Weiß: Berge. 35 Geschichten zwischen unten und oben. Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2022. € 28,00.

Ander Izagirre: Der Berg, der Menschen frisst. In den Minen des bolivianischen Hochlandes. Rotpunktverlag, Zürich 2022. Fr. 29.-

150 ans du Club alpin français

Ein Fünftel des Alpenbogens liegt in Frankreich. Bei den Gründungen bergsportlicher Verbände liegt das Land an fünfter Stelle.

«Le Club alpin français aide à faire de la montagne un sport de masse, c’est-à-dire pratiqué par le plus grand nombre. Comme de nombreuses associations, il communique à chacun de ses membres la passion de la nature. Mais sans doute est-il l’un des seuls, et là est sa grande ambition, à préparer l’homme à la vie.»

Schrieb ein Mann vor 50 Jahren, der es am Berg wie im Leben ganz hoch hinauf schaffte: Pierre Mazeaud, geboren am 24. August 1929 in Lyon. Der promovierte Jurist hatte eine Professur an der Pariser Sorbonne inne, war Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, Vizepräsident der französischen Nationalversammlung, Präsident des französischen Verfassungsgerichts, Staatssekretär für die Bereiche Jugend, Sport und Freizeit sowie zuletzt noch Vorsitzender der Commission Mazeaud, die mit der Ausarbeitung eines Berichts zur Einwanderungspolitik der Regierung beauftragt war – das war 2008! Pierre Mazeaud gehörte seit den 1950er aber auch zu den besten Alpinisten in Europa: 1959 Franzosenweg in der Nordwand der Westlichen Zinne, 1961 Fast-Erstbegehung des Frêney-Pfeilers am Mont Blanc (sie führte zu einer der bekanntesten Tragödien im Alpinismus), 1978 erster Franzose auf dem Everest zusammen mit Jean Afanassieff und Nicolas Jaeger. Was für ein volles Leben!

Sein Text zu Alpenclub und Lebensvorbereitung erschien 1974 in der Zeitschrift „La Montagne et Alpinisme“, dem Organ des Club alpin français. Heute feiert dieser Verein seinen 150. Geburtstag, und der Text von Pierre Mazeaud bildet den Auftakt für den zweiten Teil im Jubiläumsbuch „Club alpin français. Une histoire d’alpinisme volontaire“. Dieser Teil beleuchtet die letzten 50 Jahre unter dem Titel „Les horizons gagnés“ mit Porträts von Alpinisten und Alpinistinnen: „Depuis cinquante ans, ils marquent la vie du CAF et en portent les couleurs plus haut, plus loin.“ Höher, weiter, und immer mehr Mitglieder wohl auch.

Am 2. April 1874 verabschiedeten 137 Gründungsmitglieder in Paris die Statuten des Club alpin français. Etwas verspätet, darf man sicher sagen, wenn man die Gründungen der  Bergsportvereine der andern wichtigen Alpenländer anschaut: Österreichischer Alpenverein, 19. November 1862; Schweizer Alpen-Club, 19. April 1863; Club Alpino Italiano, 23. Oktober 1863; Deutscher Alpenverein, 9. Mai 1869. Im seinem 150. Jahr zählt der CAF 110000 Mitglieder in 430 Sektionen, verwaltet 120 Hütten in den Alpen, Pyrenäen, Vogesen und im Massif central. Seit 2005 heisst der Club alpin français offiziell Fédération française des clubs alpins et de montagne (FFCAM), aber der alte Name wird zum Glück immer noch gebraucht, und seine Mitglieder nennen sich cafistes. Der CAF hat das Gesicht des Bergsteigens in Frankreich nachhaltig geprägt. Als Verband bildet er weiterhin aus, inspiriert und begleitet alle Arten von Bergsteigern – junge und alte Menschen, Männer und Frauen, Amateure und Profis. Sie sind es, die diese Geschichte im reich illustrierten, roten und quadratischen Jubiläumsbuch erzählen. Den Schluss bildet die Chronologie. Gleich zu Beginn eine Tragödie: Édouard de Billy stirbt zwei Tage nach seiner Wahl zum ersten Präsident des Club alpin français bei einem Eisenbahnunglück.

Club alpin français. Une histoire d’alpinisme volontaire. Sous la direction de Thomas Vennin. Iconographie Catherine Cuenot. Guérin, éditions Paulsen, Chamonix 2023. € 59,00.

Berggeister

Ein Fotoband mit geheimnisvollen Fotos. Daniel Pittet lotet mit der Kamera eine andere Realität aus, wie es vor 200 Jahren Rudolph Meyer mit der Schreibfeder zeigte.

«Und rings um die Berge zog sich unten ein Saum von Alpenrosen im Glutfeuer der Rubinen; dann dehnten sich wieder Abhänge aus, blumig durchwoben wie der Ornat eines Priesters; oben schimmerte ein Saphirstreifen, der im Schneefeld sich verlor. Die Spitzen der Eisfelsen blitzten im Sonnenlicht als ein Brillanten-Diadem. Der Himmel war ein tiefer See, der zündete im Widerschein der Alpenrosen, und alle Blumen spiegelten sich in ihm glühend und goldig, wie Morgen- und Abendroth im Gewässer, und die Farben schwankten und schillerten im Wellenschlage.»

Dieser wundervolle Blick auf die Landschaft stammt von einem Schriftsteller und Alpinisten, der vor 200 Jahren unterwegs war. Rudolph Meyer (1791–1833), Spross der Aarauer Fabrikantenfamilie Meyer, Sohn des Jungfrau-Erstbesteigers Johann Rudolf Meyer. Rudolph Meyer selbst gelang fast die Erstbesteigung des Finsteraarhorns (4274 m) am 16. August 1812. Ob seine Führer Arnold Abbühl, Joseph Bortis und Alois Volken wirklich den allerhöchsten Punkt erreicht haben, ist eines der grössten Rätsel der Alpinismusgeschichte. Meyer selbst blieb mit einem weiteren Führer, Kaspar Huber, auf dem Südostgrat des Finsteraarhorns zurück. Rudolph Meyer lehrte von 1821 bis zu seinem Tod als Professor der Naturwissenschaften an der Aarauer Kantonsschule; sein Hauptwerk heisst „Die Geister der Natur“ von 1820. In „Alpenrosen. Ein Schweizer-Taschenbuch auf das Jahr 1831“ publizierte Meyer die Erzählung „Der Geist des Gebirges. Eine – wahre Geschichte“, aus der das Einstiegszitat mit sich spiegelnden Landschaftseindrücken stammt.

Hauptfigur dieser Rahmenerzählung, die 1815 im sturmumtosten Grimsel Hospiz spielt, ist der Walliser Gemsjäger Joseph Walcher. Er reisst die meisten Zuhörer mit seiner ebenso stürmischen Geschichte fort, die von romantischen Einfällen nur so spukt. Dazu gehören die schicksalshafte Begegnung und die Gespräche mit dem Berggeist. Eine der Weisheiten des Berggeistes sei hier widergegeben: „Der Mensch ist aus dem Urmeere noch nicht aufgetaucht, aber es schlagen in diesem Meere schon die Pulse eines höhern Lebens. Das Meer versinkt; doch sein Leben geht nicht unter!“

Rätselhaft, nicht wahr? Rudolph Meyer hätte Freude am geheimnisvollen Fotoband, der vor rund zwei Monaten aufgetaucht ist: „Berggeister. Ein anderer Blick auf die Landschaft.“ Lassen wir Daniel Pittet gleich selber erzählen. Der 1967 im Greyerzerland geborene Ingenieur, Architekt und Fotograf wollte nach einer Novemberwanderung im Basodino-Gebiet noch einmal seine Bilder anschauen – und kippte eines um 90 Grad um: „Ich trug keine Brille und konnte das Bild nicht gut erkennen, aber ich hatte dennoch die Offenbarung eines Gesichts, das mich anstarrte. Der entschlossene Blick faszinierte mich. ‚Ich bin hier und sehe dich!‘ sagte es zu mir.“ Der Schlüsselmoment: Die Spiegelung der Landschaft auf dem glatten Wasser eines Sees und die anschliessende Drehung des Bildes von der Horizontalität in die Vertikalität schufen neue Formen, mysteriöse Gestalten, phantastische Körper und Köpfe. „Diese Begegnung mit den Berggeistern ist eine Einladung, einen tiefen Blick auf die Welt um uns herum zu werfen, die Umgebung intensiv zu beobachten, in die sichtbare Materie einzudringen, um ihr innerstes Wesen zu erkennen und sich davon zu nähren.“

Tauchen wir also ein in diese andere Welt, nehmen wir Kontakt auf mit den Kreaturen und Gespenstern, den Engeln und Ungeheuern, die uns da plötzlich begegnen, uns anschauen, vielleicht auch etwas mitteilen wollen, wie es einst Joseph Walcher erlebt hat. Im Anhang des Fotobandes steht, wo und wann Daniel Pittet seinen Berggeistern begegnet ist, im Tessin, am Zmuttgletscher bei Zermatt, im Toggenburg, aber auch auf Island. Auf einzelnen Bildern erkennt man noch, wie sie entstanden sind, sieht man noch das Ufer. Andere jedoch haben sich völlig gelöst vom Ursprung, sind sozusagen vergeistert, nur noch fremde Wesen tauchen auf. Oder doch nicht? Denn auf dem Bild auf Seite 67 versteckt sich ein Hase. In diesem Sinne: Frohe Ostern!

Rudolph Meyer: Der Geist des Gebirges. Eine – wahre Geschichte; erstmals veröffentlicht 1830, abgedruckt in Fundstücke der Schweizer Erzählkunst. Erster Band 1800–1840. Birkhäuser Verlag 1990.

Daniel Pittet: Berggeister. Ein anderer Blick auf die Landschaft. AS Verlag, Zürich 2024. Fr. 49.-

Ausstellung „Esprits de la montagne. Photographies de Daniel Pittet“ im Musée gruérien in Bulle bis am 26. Mai 2024; https://musee-gruerien.ch

Schneebücher zum Frühlingsbeginn

Bevor die Skigebiete die Lifte abstellen und wir die Tourenski gegen Gravelbikes tauschen: ein Blick zurück auf vier farbig-verlockende Skipublikationen.

«Je me répète souvent que nous avons une chance extraordinaire d’avoir cet élément magique pour glisser.»

Wenn dieses magische Element denn vom Himmel fällt oder gefallen ist bzw. aus der Kanone gepulvert wurde! Aber wollen wir überhaupt noch Schnee? Heute am 20. März 2024, wenn um 4.06 Uhr mitteleuropäischer Zeit auf der Nordhalbkugel der Frühling begonnen hat – der früheste astronomische Frühlingsanfang seit 1896. Winter ade, auch wenn es am Palmsonntag-Wochenende nochmals Schnee bis unter 1000 Meter geben könnte. Jedenfalls Grund genug, um mit vier noch immer frischen Skibüchern kurz zurückzuschauen.

Das Eingangszitat zum magischen Schnee stammt von Émile Allais (1912–2012), dem Grand Old Man der französischen Skirennfahrer, gefunden im Vorwort zum vierten Band von „ski français“, der sich dem „aventure humaine“ widmet. Wer sind die Leute hinter dem Skilauf? Erfinder wie Allais, Ingenieure, die Lifte und Pisten entwickel(te)n, Arbeiterinnen, die den ganzen Pistenbetrieb im Auge behalten. Spannende Geschichten, die neben die Skiliftbügel und zurück in die Geschichte blicken, comme toujours fein präsentiert.

Das gilt bien-sûr auch für den dritten Band von „ski français“, der das magische Element unter die Lupe und die Latten nimmt. Im hinteren Teil der Publikation auf sieben Seiten ein Artikel, der die schweizerischen Tourismusanbieter sicher freut: „La Suisse, pionnière de la mobilité douce en montagne.“ Uns würde es freuen, wenn es hierzulande auch solch gut gemachte Skihefte à je 96 Seiten gäbe. In einem könnte dann das viertgrösste Skigebiet in Frankreich vorgestellt werden, das man aber gar nicht kennt. Nicht mal das gebirgige Dreigestirn, das die Region symbolisiert wie beispielweise Eiger, Mönch und Jungfrau das Oberländer Skigebiet Grindelwald-Wengen.

Zuerst diese Trio, das im Winter am schönsten anzuschauen ist, wenn die felsigen Gipfelwände rötlich und die Hänge darunter weiss leuchten. Es sind dies die Aiguilles d’Arves auf der Grenze zwischen den Departementen Savoie und Hautes-Alpes; von links nach rechts: Aiguille Septentrionale mit dem Bec Nord (3364 m) und dem Bec Sud (3358 m), Aiguille Centrale (3513 m) und Aiguille Méridionale (3514 m). Erstbesteiger der Südspitze sowie der doppelgipfligen Nordspitze waren, nicht ganz zufällig, William Augustus Brevoort Coolidge und sein Leibführer Christian Almer aus Grindelwald in den 1870er Jahren. Auf der Mittelspitze der Aiguilles d’Arves standen erstmals zwei französische Gemsjäger anno 1839. Soweit kurz die Alpinismusgeschichte. Diejenige zum Skifahren begann so richtig vor zwanzig Jahren, als sich die sechs Skiorte La Toussuire, Le Corbier, Saint-Sorlin-d’Arves, Saint-Jean-d’Arves, Les Bottières und Saint-Colomban-des-Villards zusammenschlossen. Seither treten sie unter dem geschützten Namen Les Sybelles auf. Geschichte und Gegenwart der sechs so Schönen erzählt Hervé Bodeau in „Les Sybelles. Une domaine, six stations de ski pour une histoire“. Müsste man vielleicht mal hin, im nächsten Winter.

Ebenfalls eine Reise wert, ja wohl sogar zwei oder drei Reisen, sind die Ziele, die der Bergführer Shams Eybert-Berard zusammen mit seiner Partnerin Charlotte Villez und dem Fotografen Stéphane Guigné im Bildbandführer „Voyages à ski. Des Alpes aux neiges de l’Asie centralevorstellt. Ubaye, Queyras und Korsika in Frankreich, die Dolomiten, dann Albanien, Kosovo und Griechenland: Traumdestinationen für Skitouren. Das gilt auch für die Länder weiter östlich, obwohl dann zum erhabenen Gefühl, im Schnee hoch oberhalb von Meer und Wüste zu kurven, das beengende dazukommt, dort freiheitlich unterwegs zu sein, wo dies den Einheimischen kaum bis nicht möglich ist. Die Pulverschneewoche in Sibirien jedenfalls, so cool das sicher für die Reisenden und die Bereisten gewesen ist, hätte man streichen müssen: Skiferien im Putinland, das geht schlicht nicht. Dann schon eher, wenn man so weit fliegen will, in die Mongolei mit Ski im Gepäck reisen. Von ihrem höchsten Gipfel, dem Chüiten (4374 m), durch das weisse Element hinabgleiten: mais c’est fantastique!

ski français. Tome 3: Neige; tome 4: L’aventure humaine. Éditions Glénat, Grenoble 2023/24. Je € 20,00.

Hervé Bodeau: Les Sybelles. Une domaine, six stations de ski pour une histoire. Éditions Glénat, Grenoble 2023. € 26,00.

Shams Eybert-Berard: Voyages à ski. Des Alpes aux neiges de l’Asie centrale. Éditions Glénat, Grenoble 2023. € 36,00.

Nicolas de Staël

Grossartige Gemälde mit Meer und Bergen: jetzt nach Lausanne, später mal nach Antibes.

«Bei den Remparts in der Altstadt von Antibes gehe ich nicht zum Strandtor – man käme nicht weiter –, sondern steige hoch auf die Umfriedungsstrasse auf der Mauer oben zwischen Meer und Stadt. Am ersten Hau entdecke ich zufällig die Erinnerungstafel für Nicolas de Staël, französisch und russisch. Er lebte in diesem Haus und stürzte sich am 16.3.1955 vom Balkon oben hinab.»

Eintrag vom 7. Februar 2017 im 33. Tourenbuch von Daniel Anker zur Küstenwanderung von Nizza nach Antibes, inkl. Besteigung der Anhöhe Notre Dame de Bon Port de la Garoupe (75 m) auf dem Cap d’Antibes. Ich wusste schon, dass sich Nicolas de Staël, einer meiner Lieblingsmaler, in Antibes das Leben genommen hatte. Aber wenn man dann in dieser Strasse steht, in der er tot lag, und hinaufschaut zur Terrasse seines Ateliers, von wo er gesprungen ist, dann ist das ein ziemlicher Schock. Nun ist das Werk des französischen Malers russisch-baltischer Herkunft (1914–1955) in einer grossartigen Retrospektive in der Formation de l’Hermitage hoch oberhalb der Altstadt von Lausanne zu bewundern.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, darin sehr viele der einzigartigen Gemälde und Zeichnungen von Nicolas de Staël abgebildet sind. Und auch ein Foto der Terrasse des Ateliers, mit Blick aufs Meer und das Cap d’Antibes. Diese Sicht hat de Staël immer wieder festgehalten, zum Beispiel in „Le Fort Carré d’Antibes“, einem fast zwei Meter breiten Ölgemälde, das im Musée Picasso in Antibes zu sehen ist, oder im kleinformatigen „Le Bateau“ ebenfalls von 1955, darauf ein dick aufgetragenes rotes Rechteck inmitten grau-blau-schwarz-weisser Farbschichten hervorsticht. Ein solcher roter Farbfleck findet sich auch auf „Pont de Bercy“ von 1939, das den Anfang der Ausstellung in der Fondation macht.

Farben, Farbschichten, abstrakt oder später immer mehr figurativ: Nicolas de Staël setzte in seiner Kunst neue, bis heute überraschende und überzeugende Akzente in Farbe. 1934 weilte er in den Bergen oberhalb Grenoble und schrieb seiner Adoptivmutter: „Imaginez une ferme à mi-pente d’une montagne, grands toits gris-rouge, petites fenêtres, la vigne y grimpe n’importe comment et tout autour, les Alpes avec le vent. Vers le couchant un pic couvre d’une ombre verte ou noire l’avant-plan du tableau. De-ci de-là des masses grises peu éclairées. Puis très loin, en face de nous un massif puissant et rocailleux en pleine lumière – radieux. Il semble un diamant aux mille couleurs fortement encastré dans le vieil or des blés qui ornent la vallée.“ Was er da sah und beschrieb, das malte de Staël in seinem Leben. Nicht Berge, aber Landschaften und Städte am Meer. So Agrigento in Sizilien – atemberaubend die Gemälde, die in der Hermitage hängen. Die Tochter Anne de Staël sagt im Interview im Ausstellungskatalog von ihrem Vater: „Son regard pouvait conduire les choses à leur idéal. Agrigente, c’est pareil. C’est l’abîme, c’est l’horizon, il n’y a presque rien, il y a une chute de lumière. C’est là la forme d’imagination visuelle de ce peintre.“

Also, nicht zögern: auf nach Lausanne! Und wenn wir schon dort sind, könnten wir noch das neue Musée cantonal des Beaux-Arts ein paar Schritte westlich des Bahnhofs besuchen. Im zweiten Raum im ersten Stock sind drei grossformatige Gemälde zu entdecken – Ikonen der Bergmalerei: „Le glacier de Rosenlaui“ (1841) von François Diday, „Taureau dans les Alpes“ (1884) von Eugène Burnand und „Lioba! Berger de l’Oberland bernois rappelant son troupeau“ (1886) von Auguste Baud-Bovy. Vor allem der Stier ist eine echte Wucht: Stehen wir direkt vor ihm, sind wir irgendwie froh, dass er gemalt ist.

Noch ein zweiter Hinweis auf Bergmalerei: Der Katalog „Peaks & Glaciers 2024“ von John Mitchel Fine Paintings ist da. Wie immer sind wunderbare Berggemälde zu sehen (und vielleicht zu kaufen). Mehrere Werke stammen von Charles-Henri Contencin (1898–1955) und Angelo Abrate (1900–1985): Ihre „The Wetterhorn in Winter“ bzw. „The Lac de Goillet and the Cervino“ würde ich sofort aufhängen. Einen de Staël selbstverständlich ebenfalls.

Apropos Nicolas: Sein letztes Gemälde, „Le Concert“, unglaubliche dreieinhalb auf sechs Meter gross, hängt im Musée Picasso in Antibes. Am 16. März 1955 schrieb er dem Kunsthändler Jacques Dubourg: „Je n’ai pas la force de parachever mes tableaux. Merci pour tout ce que vous avez fait pour moi. De tout cœur. Nicolas.“

Weilt man in Antibes, sollte man dieses Museum unbedingt besuchen. Das machte ich am 10. Februar 2017, nach der Wanderung von Cannes her, immer am Meer entlang. Den Aufstieg zum Caroupe-Hügel liess ich diesmal aus. Den Blick über die Baie des Anges hinweg auf die weissen Alpes Maritimes hatte ich noch gut vor Augen. Auch die eine Votiftafel drinnen in der Église Notre-Dame: Sie zeigt einen im März 1865 von einer Leiter stürzenden Mann.

Nicolas de Staël. Sous la direction de Charlotte Barat et Pierre Wat. Fondation de l’Hermitage, Lausanne 2024. Fr. 58.-
Die Ausstellung Nicolas de Staël in der Fondation de l’Hermitage in Lausanne ist noch bis 9. Juni 2024 zu sehen; alle weiteren Infoshier https://fondation-hermitage.ch/ . In der Buchhandlung liegen zahlreiche weitere Publikationen zu de Staël auf.

Musée cantonal des Beaux-Arts à Lausanne; www.mcba.ch

Peaks & Glaciers 2024, John Mitchel Fine Paintings; www.johnmitchell.net

Alle «Bücher der Woche» unter: www.bergliteratur.ch