Tour du vélo

Die Tour de France rollt seit einer Woche. Wir radeln ebenfalls, mit neuen Velobüchern und der Ausstellung „Vélo. Équilibres en mouvement“ in Genf, zu der ein rassiger Katalog erschienen ist.

«Gehen Sie da weg, mein Gott! Sie kommen, sie kommen!»

Mon Dieu, wer kommt denn da? Mit dieser Warnung beginnt ein Text im Buch „I love my bike. Geschichten vom Fahrradfahren“; Marion Hertle hat sie ausgewählt. Zum Beispiel eben diese von Gabrielle-Sidonie Colette: „Das Ende einer Tour de France.“ Seit einer Woche kommen sie wieder, die Radrennfahrer, die die grösste Radsportveranstaltung bestreiten. Vor unzähligen Zuschauern, denen immer wieder zugerufen werden muss: „Gehen Sie da weg!“ Die 111. Tour de France dauert noch bis zum 21. Juli 2024, und sie endet zum ersten Mal nicht in Paris (Olympiade!), sondern in Nizza. Die Geschichte von Colette ist nur eine von lesenswerten im Diogenes Taschenbuch. Um den Etappensieg fährt sicher Jean-Jacques Sempé mit „Das Geheimnis des Fahrradhändlers“. Auf jeden Fall die perfekte Reiselektüre, wenn wir nach Genf fahren.

Warum nach Genf – und nicht nach Troyes, wo die Etappe vom Sonntag, 7.7., startet und endet? Ganz einfach, weil im Musée Rath die grosse Ausstellung „Vélo. Équilibres en mouvement“ zu sehen ist. Über seine scheinbare Einfachheit hinaus erweist sich das Velo als eine revolutionäre Erfindung. Von seinen Anfängen im 19. Jahrhundert bis zu seinen gesellschaftlichen Auswirkungen und den technischen Innovationen von heute lässt sich dieses symbolträchtige Gefährt als Transportmittel, aber auch als Quelle der Inspiration, der Freiheit und des Abenteuers wiederentdecken. Als Ärgernis ebenfalls: „Anfangs waren Velos auf der Strasse in Genf ja schlicht verboten. Die Koexistenz mit andern Verkehrsmitteln ist seit dem Beginn des Velofahrens ein Dauerthema“, sagt Laurence-Isaline Stahl Gretsch, Kuratorin der Ausstellung, in einem Interview mit „Pro Velo Magazin“. Anhand von rund 100 Sammlerfahrrädern wird in Genf eine fesselnde Geschichte erzählt, und interaktive Geräte ermöglichen es, die Geheimnisse des Velos zu ergründen. Zudem ist zur Ausstellung ein gewichtiger Katalog erschienen; ihn zu studieren oder gar ganz zu lesen, dafür reicht die Rückfahrt von Genf mit dem Zug nicht.

Oder sind wir gar mit Velo an den Genfersee gefahren. Tant mieux! Wer gerne so unterwegs ist, kann zu zwei neuen Führern greifen. „Le Valais à vélo“ von Nicolas Richoz ist ein Bildbandführer, den man nur zuhause studieren kann: 25,5 x 30,5 cm gross, 463 Seiten dick und 2,7 kg schwer, also mehr als doppelt so schwer wie ein Rennradrahmen. Doch das Buch von Richoz besticht ja vor allem durch seine Fotos, oft aufgenommen aus der Luft. Aber wir bleiben am Boden, genauer auf der Strasse, und können so die 31 Touren hautnah miterleben, vom Lac Léman bis hinauf zu Grimsel, Furka und Nufenen. Die Infos dazu lassen sich zum Glück scannen, so dass man leicht unterwegs sein kann bei all den Anstiegen. Denn flach ist das Wallis ja nur im Rhonetal, und dort sind die Strassen zur Zeit wegen der schlimmen Unwettern vom letzten Wochenende schlecht passierbar.

Besser ist es deshalb, erst im herbstlichen Wallis zu pedalen. Und in diesem Sommer mal die erste Hälfte der Tour de Suisse anzufahren, die Rainer Bühler und Roland Tännler „Gravelpacking Schweiz“ vorschlagen, nämlich von Lausanne durch den Jura nach Solothurn, weiter durchs Mittelland nach Thun und dann über die Voralpen nach Einsiedeln und Appenzell bis Chur. Nur: Was heisst Gravelpacking? Das leitet sich ab von Gravelbike, dem geländetauglichen Rennrad – und Trendsportgerät für Kies- und Waldwege. Abseits befestigter Strassen fahren Bühler & Tännler mit Freunden und wenig Gepäck in 20 Etappen durch die Schweiz. Wir sind dabei. Im Gepäck „I love my bike“. Vielleicht auch noch „Globi an der Tour de Suisse“. Am fünften Tag fragt sich Globi, im Peloton mitfahrend: „Warum pedalen die jetzt schon so schnell?“

Marion Hertle (Hg.): I love my bike. Geschichten vom Fahrradfahren. Diogenes Verlag, Zürich 2024. Fr. 19.-
Vélo. Équilibres en mouvement. Éditions Favre, Lausanne 2024. Fr. 25.- Die gleichnamige Ausstellung im Musée Rath in Genève dauert bis am 13. Oktober 2024, Di bis So, 10 bis 18 Uhr. www.mahmah.ch/expositions/velo
Nicolas Richoz: Le Valais à vélo. Éditions Slatkine, Genève 2023. Fr. 65.-
Rainer Bühler, Roland Tännler: Gravelpacking Schweiz. Vorwort von Max Küng.Weber Verlag, Thun 2024. Fr. 39.-
Heiri Schmid: Globi an der Tour de Suisse. Globi Verlag, Zürich 2024. Fr. 26.90.

Eiger, Montoz & Co.

Die fünfzehn neuen Gipfelkarten von Swisstopo im Massstab 1:25‘000 mit mehr oder minder bekannten Gipfeln aus unterschiedlichen Regionen der Schweiz sind ein schönes Tool für Gipfelstürmerinnen und Talwanderer.

Ein Berner namens Röbi Neiger
stieg durch die Nordwand auf den Eiger;
doch als den Gipfel er erreichte,
da war enttäuscht er und erbleichte:
Er hatte nämlich angenommen,
er sei aufs Wetterhorn geklommen.

Über 600 „Ein Berner namens…“ hat Ueli der Schreiber auf der Seite „Bärner Platte“ in der humoristisch-satirischen Zeitschrift „Nebelspalter“ veröffentlicht. Der Röbi Neiger steigt durch die falsche Nordwand auf einen der beiden mächtigen Grindelwalder Hausberge erstmals am 14. März 1973. Und er tut es im gleichen Jahr nochmals im fünften Band der gesammelten „Ein Berner namens…“ Insgesamt sind sieben solcher Bände erschienen. Der Schreiber heisst eigentlich Guido Schmezer (1924–2019). Er arbeitete viereinhalb Jahre als Bildredaktor des „Nebelspalter“, zehn Jahre als Programmschaffender beim Radio Bern sowie zweiundzwanzig Jahre als Beauftragter für Information und als Stadtarchivar der Stadt Bern. Der schönste Berg für ihn waren weder das Wetterhorn noch der Eiger, sondern das Bietschhorn.

Doch zurück zum Eiger. Schon wieder toppt er seinen Konkurrenten, und das gleich doppelt. Denn erstens steht sein Name auf einer der fünfzehn druckfrischen, neuen Gipfelkarten im Massstab 1:25‘000, die das Bundesamt für Landestopografie swisstopo herausgeben hat. Zweitens ist auf dem Blatt 25113 „Eiger. Faulhorn – Grindelwald – Jungfrau“ das arme Wetterhorn gar nicht drauf; der Blattausschnitt reicht im dorfnahen Hochgebirge von Grindelwald gen Osten grad knapp zum Mättenberg. Und das sind die Eckpunkte auf der 77 x 76 cm grossen Kartenfläche: von oben links im Uhrzeigersinn Unterseen – Schwarzhorn – Grünegghorn – Ellstabhoren. Es ist die Jungfrau-Region inklusive Mürren und Schilthorn, aber ohne Grosse Scheidegg und Wetterhorn. Eine grossartige Landschaft, wofür man sonst vier 1:25‘000er Blätter braucht. Nun hat man sie in einem Blick vor sich, und die zusammengefaltete Karte im Format 11 x 19 cm findet in der Beintasche gut Platz. Die Gipfelkarten werden nicht im Voraus gedruckt, sondern erst bei Bestellung mit einem Hochgeschwindigkeits-Digitaldrucker produziert, was Papier spart. Die Karten werden jährlich mit den neusten verfügbaren Daten aktualisiert.

Die aktuelle Auswahl bildet insbesondere jene mehr oder minder bekannten Gipfel ab, die oft ausserhalb des Blattschnitts bzw. zwischen Kartenblättern liegen; sie ersetzt teils auch die Zusammensetzungen. Folgende Gipfel(karten) warten auf Gipfelstürmerinnen und Talwanderer: Passwang (Blatt 25101), Mont Raimeux (25102), Montoz (25103), Le Moléson 25104), Rochers de Naye (25105), Dom (251069), Monte Tamaro (25107), Piz Corvatsch (25108), Säntis (25109), Speer (25110), Schnebelhorn (25111), Titlis (2512), Brienzer Rothorn (25114) und Napf (24115). Darunter wohl nicht ganz zufällig sechs Kantonshöhepunkte (JU, AI, AR, ZH, OW, LU) sowie der höchste, ganz in der Schweiz liegende Gipfel. Allerdings ist der Dom (4546 m) auf dem 1:25‘000 Blatt „Randa“ bereits bestens abgebildet. Dringender wäre deshalb in der swisstopo Kartenserie Gipfel das Blatt „Monte Rosa“; während seine Ostwand mit den vier höchsten Gipfeln der Schweiz auf der Karte im Massstab 1:25‘000 abgebildet ist, liegt das Gebiet südlich der Landesgrenze zwischen Signalkuppe und Gobba di Rollin analog und digital aussen vor, ist also weiss wie die Gletscher dort. Dass Gipfelstürmer dann anstelle des angepeilten Felikhorns (4087 m) die Punta Perazzi (3906 m) erreichen, ist nicht ganz ausgeschlossen.

Bundesamt für Landestopografie swisstopo, Kartenserie Gipfel, 1:25‘000. Preis pro Blatt Fr. 21.50. https://shop.swisstopo.admin.ch/de/karten/regionskarten/gipfel-25000

Zwischen Bürgenberg und Titlis

Der Bürgenstock am Lake Lucerne wird wieder begehbar. Im Reisegepäck ein traditioneller Führer und eine literarische Spurensuche.

«Besonders in den 1950er-Jahren erlebte der Bürgenstock viel Glamour und Prominenz. Audrey Hepburn heiratete Mel Ferrer 1954 in der kleinen Kapelle aus dem 19. Jahrhundert. Die beiden besuchten den Bürgenstock auch in den folgenden Jahren immer wieder, genauso wie Sophia Loren und ihr Mann Carlo Ponti sowie in den 1960er-Jahren Sean Connery, der damalige James-Bond-Darsteller. Heute weisen Plaketten an den verschiedenen Häusern des 2017 neu eröffneten Resorts auf die berühmten Gäste und die illustre Geschichte des Bürgenstocks hin.»

Schon bald hängen dort bestimmt neue Plaketten, die an die hochrangige Friedenskonferenz vom 15. und 16. Juni 2024 erinnern. Als Melanie Gerber ihre „Lieblingsplätze rund um den Vierwaldstättersee“ auswählte und beschrieb, war der Summit on Peace in Ukraine auf dem Bürgenstock noch kein Thema. Jetzt besuchen wir erst recht mal diesen berühmten Gipfel am Lake Lucerne. Der Bürgenstock hat die Nummer 39 erhalten. Die 80 Plätze verteilen sich so: Je 20 in Luzern, Unterwalden, Uri sowie Schwyz und Zug. Obwalden und Zug haben keinen Anteil am Lac des Quatre-Cantons, gehören aber durchaus zur Region zmitts ir Schwyz. Und da gibt es eben einiges zu entdecken: Zum Beispiel die Festung Fürigen im Bürgenberg. So nennt man den zehn Kilometer langen Gebirgsrücken zwischen Ennetbürgen im Osten und Stansstad im Westen; sein höchster Punkt heisst (1128 m)  Bürgenstock – wie das Resort. Genau über den mittleren Teil des Rückens verläuft die Kantonsgrenze LU-NW.

«In den folgenden Wochen achte ich auf die Grenze zwischen Nidwalden und Obwalden, doch es ist schwierig, den einen Kanton zu erkunden ohne in den anderen zu stolpern. Selbst der markante Gebirgszug zwischen den beiden Tälern ist keine zuverlässige Schranke. Ich steige in Obwalden in eine Seilbahn, schwebe auf halbe Höhe eines Berges hinauf und steige in Nidwalden aus, wo sich die scharfen Kanten des schneebedeckten Gipfels gegen einen weissen Himmel abheben.»

Nun, ganz so schwierig ist es im Allgemeinen nicht mit der unterwaldnerischen Halbkantonsgrenze, ausser dort, wo die Exklave Engelberg (OW) tatsächlich für überraschende Grenzübertritte sorgt, bei den Seilbahnfahrten Richtung Titlis oder nach Brunniswald. Das Zitat stammt von Shelby Stuart, einer transdisziplinären Künstlerin und Autorin mit einem Masterabschluss an der Zürcher Hochschule der Künste. In ihrem zweisprachigen Buch „Schwyz. Uri. Unterwalden“ unternimmt sie 21 Wanderungen durch die drei Gründungskantone der Schweiz, um den Landschaften zu begegnen, die sich hinter den gängigen Klischees verbergen. Mit jeder Entdeckung eines Kantons erscheinen die anderen in einem anderen Licht, mit jedem Textabschnitt werden Berge und Wiesen, Orte und Begegnungen neu wahrgenommen und gedeutet. Scheinbar leicht und locker hingesetzt, und plötzlich taucht hinter den Zeilen mehr auf, als man zuerst gelesen und gedacht hat. Passende Lektüre für ein paar sommerliche Sonnenstunden am Vierwaldstättersee. Auch an demjenigen im Zoo Berlin. Denn der vielarmige See zwischen Affen- und Elefantenhaus heisst wie der viertgrösste See der Schweiz.

Melanie Gerber: Lieblingsplätze rund um den Vierwaldstättersee. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2024. € 17,00.

Shelby Stuart: Schwyz. Uri. Unterwalden. Zweisprachige Ausgabe. Translated from the English by Beatrice Minger. Mit einem Nachwort von Christian de Simoni. Edition Taberna Kritika, Bern 2024. Fr. 18.- www.shelbylstuart.com

Bergführer Berlin

Bergwandern in der grössten Stadt der EU: aber unbedingt. Mehr Geschichte und Natur auf Schritt und Tritt geht fast nicht.

«Erst jüngst in die Liste der höchsten Berliner Erhebungen geschnellt – auf fast 77 Meter – ist der wohl halboffiziell so genannte Alpengipfel. Er steht oder liegt am Südrand der Stadt im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, im Freizeitpark Marienfelde. Er verweist auf die Alpen, die noch weit, weit südlich über das Flachland des Kreises Teltow-Fläming hinweg geahnt werden können.»

So leitet Wilfried Griebel die Vorstellung des Alpengipfels im Buch „Bergführer Berlin“ ein. Griebel, gelernter Münchner und Mitglied des Deutschen Alpenvereins, Sektion Alexander von Humboldt, in Berlin, gehört zur Dreierseilschaft, die den „Stadtführer für urbane Gipfelstürmer“ herausgab. Insgesamt 13 Autoren stellen in 57 Kapiteln Berliner Berge vor, schön alphabetisch geordnet von Ahrensfelder Berge über Großer Müggelberg (114,7 m) – der höchste natürliche Gipfel Berlins! – bis Windmühlenberg. Immer mit Tipps zu Anreise, Einkehrmöglichkeiten und notwendiger Ausrüstung sowie mit viel Hintergrundinformationen zu Geschichte, Geographie und Landeskultur. Und immer mit der passenden Infotafel, um was für einen Berg es sich handelt: Vulkan, Schutt-, Müll-, Sand-, Trümmer- oder Moränenberg. So ist der Alpengipfel ein Müllberg: Er entstand „auf einer von 1950 bis 1981 genutzten Mülldeponie, in der ca. vier Millionen Kubikmeter Hausmüll abgeladen wurden. Er stellt also gewissermaßen eine Zivilisationsendmoräne dar, die zum Freizeitpark umgestaltet wurde.“ Und der jetzt schön grün ist, mit immer höher werdenden Bäumen. Wie auf vielen andern Berliner Bergen. Zum Beispiel auf dem Großen Bunkerberg (78 m), den Eva und ich am vergangenen Sonntag erklommen.

Die beiden Bunkerberge – der Kleine ist 68 Meter hoch – stehen im Volkspark Friedrichshain. Der war an diesem sonnigen Sonntag voll bevölkert, Familien, Spaziergängern, Joggerinnen, Radelnde, ein paar Sonnenbadende ebenfalls. Das Gasthaus beim Großen Teich gut besetzt. Eine friedliche Stimmung – heute. Das war vor 82 Jahren vielleicht auch noch so. Nur gab es damals noch keine Berge beim Teich, dafür den mächtigen, 1941 fertig gebauten Flakbunker. Die Rote Armee versuchte ihn 1946 zu sprengen, ohne Erfolg. In der Folge wurden Trümmer und Schutt aus der zerbombten Stadt ringsherum angehäuft, heran- und hinaufgekarrt mit einer kleinen Eisenbahn. Am Gipfel zeigen sich immer noch Teile des Daches des Gefechtsbunkers. Im Volksmund heisst der Große Bunkerberg, dieser „Kalvarienberg der deutschen Geschichte“, Mont Klamott.

Überhaupt die Namen. Der Havelberg ist der Panzerberg. Den Teufelsberg (120,4 m) nannte man wegen der Abhörstation Großes Ohr; er ist ein Trümmerberg und nur 60 Zentimeter tiefer als der Arkenberg, der höchste Berg Berlins. Und dann ist da noch der Runde Weinberg, der Sandberg und der Tempelhofer Berg – alles Übernamen für den Kreuzberg (66 m). Tja, Kreuzberg ist eben nicht nur ein berühmter Ortsteil von Berlin, sondern auch ein natürlicher Moränenberg, mit einem künstlichen Bergbach und zuoberst dem Nationaldenkmal für die Befreiungskriege. Mehr noch: Der Kreuzberg ist auch ein heiliger Berg der deutschen Justiz, weil mit den 1882 geschaffenen „Kreuzberg-Urteilen“ ein ganz wichtiger Schritt zur Gewaltenteilung geschaffen wurde, die heute im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert ist. Mehr dazu im „Bergführer Berlin“ – und in der Infotafel am Fuss des Kreuzberges, dort, wo der Aufstieg entlang des Baches beginnt, der unten in einen Teich fällt, wo seit 125 Jahren die Bronzeskulptur „Der seltene Fang“ des Künstlers Ernst Gustav Herter steht: ein bärtiger Fischer, der eine schöne Nixe gefangen hat.

Auch in der viergrössten Stadt Europas (und der grössten der EU) ist Wandern mehr, als einen Fuss vor den andern setzen. Besser: erst recht. Dazu empfiehlt sich unbedingt der „Bergführer Berlin“, auch wenn ein Inhaltsverzeichnis und eine Liste der Berge nach Höhe fehlen. Letztere findet man hier, von Arkenberge bis Südplateau (49,6 m) im Fritz-Schloß-Park: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Erhebungen_in_Berlin. Kurz: Auf nach Berglin!

Markus Gerold, Wilfried Griebel, Heidje Beutel (Hg.): Bergführer Berlin. Ein Stadtführer für urbane Gipfelstürmer. BeBra Verlag, Berlin 2020. € 16,00.

Ab ins Bündnerland

Nie ist kulturalpin mehr los in der Ferienecke der Schweiz als während des Bergfahrt Festivals in Bergün. Als Zugslektüre ein Bericht, ein Führer und eine besondere Biografie.

«Sonntag, 9. Juni 2024, 09:45 – 10:30 im Blauen Saal im Kurhaus Bergün.

Das Floss der Medusa auf dem Palpuogna-See. Ernst Bromeis mit der Schwimmanleitung in Zeiten des Untergangs. Musik und Wort.

In Zeiten, wo links und rechts von einem die Welt untergeht, ist es von Vorteil, wenn man schwimmen kann. Wasserbotschafter (an Land) und Expeditionsschwimmer (im Wasser) Ernst Bromeis rudert mit uns auf dem Flügel über den stürmischen Lai da Palpuogna. Improvisation auf der Klaviatur des Lebens ist gefragt.»

Nur eine der schier unzähligen Veranstaltungen, die das Bergfahrt Festival Bergün vom 7. bis 9. Juni bietet. Wer noch nie dort war, sollte unbedingt mal mit der RhB zu diesem Ort am Albulapass reisen. Und wer ihn kennt und das Programm von Cultura alpina in Bravuogn, wird einmal mehr überrascht sein, wie vielfältig, spannend, überraschend die Bergüner Bergfahrt auch in diesem Jahr ist. Ernst Bromeis übrigens hat 2008 ein spektakuläres Buch zu Graubünden verfasst (https://bergliteratur.ch/245/). Graubünden ist eben auch Blaubünden.

Am Lai da Palpuegna (oder Palpuogna, es finden sich beide Schreibweisen) machte vor drei Jahren der Weitwanderer Reto Küng eine kurze Rast. Dort trifft er auf seiner längsten Etappe (33 km) von Savognin zur Chamanna d’Es-cha „erstmals auf einige Tagestouristen. Dies ist nicht verwunderlich, der See gilt als einer der schönsten Graubündens und ist leicht zugänglich. Ich raste für eine halbe Stunde an seinem Ufer.“ In 43 Etappen mit insgesamt 932 Kilometern marschierte Küng quer durch die Schweiz und hielt das Trekking mit lockerem Text und 140 meist grossformatigen Fotos fest im Buch „Indirettissima. Auf Umwegen vom Waadtländer Jura in die Val Müstair“. Der Haupttitel ist eine Anspielung an die legendäre „Direttissima Schweiz“ von 1983, die auf dem Kilometer 160 von Westen nach Osten in die Val Müstair ging.

Auf der 36. Etappe gelangte Küng nach Thalkirch im Safiental, auf der 37. weiter nach Zillis in der Val Schons. Beide Orte liegen im Naturpark Beverin/Parc natiral Bavregn, der sich über 515 km2 rund um den Piz Beverin (2997 m) erstreckt. Wer den Naturpark Beverin richtig kennenlernen will, packt den „Kultur- und Landschaftsführer rund um den Piz Beverin“ in den Koffer – noch besser in den Rucksack. Denn er zeigt die schönsten Routen für Naturliebhabende und Wanderfreundinnen, Mountainbiker und Skitüüreler. Zudem bringt der kompakte Führer den Lesenden zahlreiche Facetten des Naturparks näher. Wer sind die Menschen, die hier leben und arbeiten? Wie kam es, dass der Steinbock in einer Kolonie mit über 400 Tieren am Bärenhorn und an den Grauhörnern heimisch ist? Wie prägen Rätoromanen und Walser die Landschaft und das Leben bis heute? Welche Bedeutung hat die Lage des Naturpark Beverin an einer der ältesten Nord-Süd-Achsen der Alpen (Via Mala)?

Aber für Bergün reisen wir von Thusis nicht auf dem „schlechten Weg“ Richtung Zillis, sondern bleiben in der RhB hocken. Und nach dem Festival fahren wir, knapp am Lai da Palpuegna vorbei, durch den Albulatunnel hinüber ins Engadin. Zu diesem weltberühmten Hochtal hat Karsten Plöger das hoch interessante Buch „Biografie einer Landschaft“ geschrieben. Nach dem Abschluss seines Studiums an der University of Oxford mit einer Dissertation zur mittelalterlichen Diplomatie war Plöger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut London und von 2010 bis 2018 als Lehrperson und Mitglied der Schulleitung am Lyceum Alpinum Zuoz tätig. Er erzählt von Bauern und Hirten, von Säumern, Söldnern und Zuckerbäckern, von Kriegszügen und den Olympischen Winterspielen in St. Moritz, von den Wandlungen des Klimas sowie von den Entwicklungsunterschieden zwischen dem Ober- und dem Unterengadin.

Zum Schluss unserer Bündner Fahrt ein Ausschnitt aus dem letzten Absatz des Engadin-Buches: „Die Aneignung der eisgeborenen Landschaft zwischen Maloja und Martina ist derweil noch nicht abgeschlossen; sie begann mit den Steinäxten des vierten vorchristlichen und setzt sich fort mit den Glasfaserkabeln des dritten nachchristlichen Jahrtausends. Unseren Vorfahren erschien diese Landschaft als bedrohlich, kaum zu bändigen. Wie fragil sie in Wirklichkeit ist, zeigt sich erst seit wenigen Jahrzehnten.“

Alles zum Bergfahrt Festival Bergün hier: www.bergfahrtfestival.ch/content/files/Bergfahrt-Festival_Programm_2024_digital%281%29.pdf

Reto Küng: Indirettissima. Auf Umwegen vom Waadtländer Jura in die Val Müstair. Edition Wanderwerk, Burgistein 2022. Fr. 36.- www.wanderwerk.ch.

Naturpark Beverein (Hrsg): Naturpark Beverin – Parc natiral Bavregn. Ein Kultur- und Landschaftsführer rund um den Piz Beverin. Somedia Buchverlag, Edition Terra Grischuna, Chur 2024. Fr. 26.50.

Karsten Plöger: Das Engadin. Biografie einer Landschaft. Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2023. Fr. 39.- Englische Ausgabe: The Engadine. Bioghraphy of a landscape.

Der Wolf ist da – so auch im ALPS

Die Rückkehr des Wolfs in die alpine Kulturlandschaft polarisiert und wirft neben allen politischen, gesellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Themen auch eine Reihe von Rechtsfragen auf. Roland Norerm klärt auf, im Alpinen Museum in Bern und in einem dicken Buch.

«Verehrte Anwesende, es freut mich sehr, dass Sie sich für die Problematik von Wolf und Weidewirtschaft im Alpenraum interessieren und heute zu unserem Anlass gekommen sind. Mein Name ist Jon Mathieu, ich darf den Anlass einleiten. Im Zentrum steht das neue Buch von Roland Norer über die rechtliche Seite dieses aktuellen Themas – Sie haben vermutlich noch keinen realen Wolf live in den Alpen gesehen oder sonst nur im Fernsehen. Mündlich und schriftlich ist der Wolf dagegen überaus präsent, heute können Sie ihn nun aus der bisher unterbelichteten Perspektive des Rechts und der Rechtswissenschaft kennenlernen. Mein geschätzter Kollege, Professor Roland Norer von der Universität Luzern, ist Experte für ländliches Recht, besonders im Alpenraum. Er ist auch ein grosser Alpinist und ein erstrangiger Kenner der Rechtslage rund um den Wolf. Jetzt hat er die Energie aufgebracht, ein zusammenfassendes Buch zu publizieren: ‹Wolfsmanagement im Alpenraum. Rechtsfragen zwischen Artenschutz und Weidehaltung› – alles was es dazu zu sagen gibt, übersichtlich dargestellt und in klarer, nüchterner Sprache beschrieben auf 400 Seiten.»

Mit diesen Worten leitet Jon Mathieu, emerierter Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Neuzeit und Präsident des wissenschaftlichen Beirats des Institutes Kulturen der Alpen, die heutige Veranstaltung im Alpinen Museum in Bern zu einem relativ jungen Bewohner der Alpen ein, der wie kein anderer für Gesprächsstoff sorgt: der Wolf. So jung ist der Canis lupus natürlich nicht. Er jagte wohl schon zwischen Calanda und Gantrisch, als die Schweiz noch kaum von Menschen besiedelt war. Aber diese machten dem Wolf so tüchtig den Garaus, dass es ihn hierzulande nicht mehr gab. Bis er 1995 erstmals wieder helvetisches Territorium betrat. Jetzt ist er da. Und heute Abend im grossen Saal im ALPS.

Wolfsschutz und speziell Alpwirtschaft ist ein Dauerthema in Politik und Öffentlichkeit, am analogen und digitalen Stammtisch. Die damit verbundenen Rechtsfragen zwischen der am 19. September 1979 im Rathaus zu Bern beschlossenen Berner Konvention, der EU-Habitatrichtlinie sowie nationalem Recht beschäftigen mittlerweile Verwaltungen und Gerichte. Mehr denn je sind juristische Antworten gefragt. Roland Norer kennt sie. Am Schluss seines wissenschaftliche, mit 1813 Fussnoten versehenen Buches legt er anstelle einer Zusammenfassung ein paar eigene Betrachtungen und Gedanken vor. Da fällt insbesondere der Abschnitt zum Wolf als Karrierist auf, dem es gelang, in rund drei Wolfsleben die rechtliche Szene in Europa auf allen Ebenen aufzumischen – von Brüssel über Strassburg bis nach Bern und Uetendorf: „Eine beeindruckende rechtliche Performance, die nie einer anderen Tierart in auch nur annäherndem Ausmass und vergleichbarer Intensität vergönnt sein wird. Der Wolf ist zum juristischen Superstar aufgesteigen, der es in der Hand hat, alle drei Staatsgewalten, eine Vielzahl von Verbänden und die Öffentlichkeit auf Trab zu halten.“ Arrrooooooo….

Wolf und Weidewirtschaft − wie weiter? Eine Veranstaltung im ALPS, dem Alpinen Museum der Schweiz in Bern, am Mittwoch, 22. Mai 2024. Apéro ab 17.30 Uhr, Vortrag und Diskussion ab 18.30: Einleitung durch Prof. em. Dr. Jon Mathieu, Präsident Wissenschaftlicher Beirat Institut Kulturen der Alpen; Wolfsmanagement: Einblicke und Buchvorstellung durch Prof. Dr. Roland Norer, Universität Luzern.

Weitere Veranstaltungen: 12. Juni 2024, 19 Uhr, Zeughaus Uri, Lehnplatz 22, 6460 Altdorf. www.unilu.ch/fakultaeten/rf/professuren/norer-roland/news/wolfsmanagement-und-weidewirtschaft-eine-alpenreise-8435/

Roland Norer: Wolfsmanagement im Alpenraum. Rechtsfragen zwischen Artenschutz und Weidehaltung. Verlag Österreich, Wien 2024. Veröffentlichung in der Schweiz: Dike Verlag, 8006 Zürich, www.dike.ch. Fr. 96.-

Weit wandern mit Werner

Wandern in den Alpen des Piemonts. Als Begleiter zum Finden und Verstehen des Weges empfehlen sich unbedingt die Führer von Werner Bätzing.

«Die Grande Traversata delle Alpi kann ‹ein Urlaubserlebnis vermitteln, das heute ziemlich selten geworden ist, nämlich die Entdeckung einer grossartigen hochalpinen Landschaft ohne Massentourismus›, schreibt der Alpin- und Kulturgeograph Werner Bätzing, einer der besten Kenner der italienischen Alpen und Autor der beiden neu bzw. gänzlich überarbeiteten Führerbändchen zur GTA. ‹Bändchen› bezieht sich allerdings nur auf ihre Rucksacktauglichkeit. Denn sonst sind es grosse Wanderführer, was touristische Vorder- und sachliche Hintergrundinformation angeht. Wer immer auch die Grande Traversata delle Alpi unter die Füsse nehmen will, die beiden Bätzing-Führer gehören ebenso dazu wie gute Wanderschuhe.»

So rezensierte ich das zweibändige Wanderbuch „Grande Traversata delle Alpi GTA“ von Werner Bätzing im Februar-Heft 1995 des Monatsbulletins des Schweizer Alpen-Clubs. An dieser Einschätzung zu den beiden Führern für den Weitwanderweg durch die piemontesischen Alpen hat sich nichts geändert. Ausser dass aus den Bändchen Bände geworden sind, die jedoch mit der Abmessung 12 x 19 cm immer noch in den Rucksack passen. Der Band Norden mit dem Weg vom Wallis ins Susa-Tal bei Turin ist 300 Gramm leicht, der Band Süden mit dem Weg vom Susa-Tal ans Mittelmeer 380 Gramm. Zusammen ergibt das 520 Seiten voller Geschichten und Infos zu einem der überzeugendsten Beispiele für einen sanften Tourismus im ganzen Alpenraum. Werner Bätzing, Jahrgang 1949, bis 2014 Professor für Kulturgeografie an der Uni Erlangen-Nürnberg und seit 1977 wandernd und analysierend in den Alpen unterwegs, veröffentlichte die GTA-Führer erstmals 1986/87 im Verlag „Der Weitwanderer“. Seit 2003 erscheinen sie im Zürcher Rotpunktverlag, seit März 2024 sind sie in der 9. Auflage greifbar.

„Für die neue Auflage habe ich erneute zahlreiche Aktualisierungen (z.B. neue Telefonnummern von Unterkünften, geänderte Internet-Seiten von Busfahrplänen, Angaben zur touristischen und zur Bevölkerungsentwicklung) und Änderungen (Wechsel bei den posti tappa, Veränderungen am Weg, neue Kartengrundlagen) vorgenommen“, schreibt Bätzing in seinem jährlichen Rundbrief. „Inhaltlich besonders wichtig: In der 8. Auflage (2018) hatte ich die Projekte ‚Sweet Mountains‘ und ‚Alpi del Mediterraneo‘ kurz dargestellt, die großflächig einen umwelt- und sozialverträglichen Tourismus im Piemont fördern wollten und die auch die GTA im Kontext der Region zusätzlich gefördert hätten. Inzwischen sind beide Projekte leider eingestellt worden. Die GTA dagegen funktioniert weiterhin wie gewohnt.“ Grund genug, die GTA endlich unter die Füsse zu nehmen. Man muss ja nicht gleich die 26 nördlichen und/oder die 34 südlichen Etappen aneinander hängen; die GTA lässt sich gut in wöchentlichen Abschnitten unternehmen. Zum Beispiel in sieben Tagen von der Valle Anzasca über sieben Pässe nach Alagna in der Val Sesia. Oder in fünf Etappen vom Kern der Ligurischen Alpen entlang der italienisch-französischen Grenze nach Ventimiglia.

Und weil es uns so fest dorthin zieht, wo der Alpenbogen ins Mittelmeer taucht, packen wir noch gleich einen anderen Bätzing-Führer in den Rucksack – oder legen ihn vorerst zuoberst auf den Beistelltisch. 2006 erschien mit „Die Seealpen“ das erste von fünf Wanderbüchern für Teilgebiete der piemontesischen Alpen, die Werner Bätzing zusammen mit Michael Kleider verfasste. Nun sind „Die Seealpen“ in der dritten Auflage herausgekommen, 270 Gramm mit 224 Seiten. Dazu nochmals Bätzing in seinem Rundbrief: „Die Seealpen sind eine sehr attraktive Alpenregion mit den südlichsten Dreitausendern und den südlichsten Gletschern der Alpen (auf Grund der Klimaerwärmung sind sie jedoch kurz vor dem Verschwinden), die eine besonders große Artenvielfalt (Mischung alpiner, mediterraner und sogar pannonischer Arten) und rund dreißig Endemiten (Pflanzenarten, die nur hier vorkommen) besitzt und die viele außergewöhnliche Fernblicke sowohl auf das Mittelmeer wie auf den Alpenbogen bis zum Monte Rosa ermöglicht.“ Worauf warten wir noch? Ab in den Süden! Mit einem bis drei neuen „Bändchen“ im Rucksack.

Werner Bätzing: Grande Traversata delle Alpi GTA. Teil 1: Der Norden. Vom Wallis ins Susa-Tal. Teil 2: Der Süden. Vom Susa-Tal ans Mittelmeer. Rotpunktverlag, Zürich 2024. Je Fr. 35.-
Werner Bätzing, Michael Kleider: Die Seealpen. Naturpark-Wanderungen zwischen Piemont und Côte d’Azur. Rotpunktverlag, Zürich 2024. Fr. 35.-

(Alpen-)Gärten

Sonne verspricht der Wetterbericht über die Auffahrtstage. Ab in den Garten, in den eigenen oder, weniger anstrengend, einen fremden.

«Edelweiss (Leontopodium alpinum). En médecine vétérinaire populaire, il servait à traiter les diarrhées des animaux, mais n’avait pas d’usages chez les humains. L’industrie du cosmétique a identifié de nombreux antioxydants fabriqués par la plante pour se protéger du stress environnemental lié à l’altitude. On l’a donc depuis intégrée dans de nombreuses crèmes anti-âge, mais à partir d’une filière de culture car la plante est relativement rare dans la nature. L’edelweiss permet aussi de réaliser une liqueur d’agrément d’une intense couleur verte.»

Armes Edelweiss! Und es geht hier nur um die Pflanze. Nicht um alles andere, wofür der Name auch gebraucht wurde und wird. Allein beim Scrollen durch die Begriffserklärungsseite https://de.wikipedia.org/wiki/Edelweiß wird einem schwindlig, wie nach einem Gläschen zu viel vom Likör mit der intensiv grünen Farbe. L’edelweiss also: Die gesuchte alpine Blume gegen Durchfall bei Tieren und gegen das Älteraussehen bei Menschen heisst im Französischen gleich wie im Deutschen. Seine oben erwähnten Eigenschaften sind beim Buchstaben E im Beitrag „P comme pharmacopée“ im Frühlingsheft der Zeitschrift „L’Alpe“ aufgelistet, die sich den Gärten widmet. Dieses pflanzliche ABC wächst von A wie Arnica über den G wie Génépi bis V wie Vulnéraire des Chartreux – schon wieder ein Schnaps, non-de-Dieu! Aber das Gartenheft liefert nicht nur Verdauungstipps, mais non. Schmackhaft das Kapitel „Dis-moi pourquoi tu jardines“. Bitter dasjenige zu Henry Correvon: Der Gründer der Alpengärten La Linnaea beim Col du Grand-Saint-Bernard und La Rambertia auf den Rochers-de-Naye war auch ein (zu) eifriger Verkäufer von Alpenpflanzen. Aufgefrischt die Zusammenstellung zu den Alpengärten; in den Alpen wächst ein Drittel der europäischen Flora. Blühend das Interview zum wissenschaftlichen Garten auf dem Col du Lautaret. Schwarzweiss das Porträt von Armand Schulthess, dessen ganz besonderer Garten in Auressio im Valle Onsernone in der Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ von Max Frisch eine wichtige Rolle spielt. Bunt die Galerie mit Gartengemälden bekannter und unbekannter Künstler; doppelseitig der „Bauerngarten“ von Cuno Amiet. Wie immer überzeugt auch die jüngste Ausgabe von „L’Alpe“ mit den Illustrationen.

La Rambertia, La Linnaea, die Alpengärten Schatzalp und Schynige Platte, aber auch der Landschaftsgarten Alpenblick in Kerns oder das Garten Museum Walserhaus in Bosco-Gurin. Sie sind enthalten im „Gartenführer Schweiz“, der 330 Gärten und Parks vorstellt – eine Einladung, die Schweiz neu zu entdecken. Etwas Vorbereitung braucht es, oft muss man sich anmelden, vor allem bei den privaten Gärten. Selbstverständlich hat Sarah Fasolin, Gartenjournalistin und Zeithistorikerin, notiert, wo man sich melden muss. Wie überhaupt die Infos passen, inklusive Angaben zu Führungen, öV, Rollstuhlgängigkeit, Pflanzenverkauf etc. Dazu Übersichtskarten und immer ein Foto pro Garten. Aber darüberhinaus ist der „Gartenführer Schweiz“ ein Geschichtsbuch: einerseits zu all den vorgestellten Gärten, mindestens einem aus jedem der 26 Kantone, und andererseits genau dazu, was jeden der Kantone gartenmässig auszeichnet. Das dicke Buch ist also auch eines zu einer ganz besonderen, sicher wenig bekannten Geschichte unseres Landes, und natürlich ebenfalls zur Geschichte der Gartenbaukunst ganz allgemein. Schon nur beim Durchblättern in der Buchhandlung kommt Freude auf. Wie denn erst zuhause auf dem schattigen Balkon mit dem aufgestängelten Edelweiss.

Jardins. L’Alpe, N° 104, printemps 2024. Éditions Glénat Grenoble. Fr. 26.-
Sarah Fasolin: Gartenführer Schweiz. Die 330 schönsten Gärten und Parks. AT Verlag, Aarau 2024. Fr. 38.-

Ella Maillart

Bei der diesjährigen Olympiade in Paris beginnt man, die Segel zu ordnen. Vor hundert Jahren starteten die Sommerspiele bereits am 4. Mai. Mit dabei eine Genfer Seglerin, als einzige Frau bei den Wettkämpfen auf der Seine.

«Il faut tenir, tenir, TENIR… jusqu’à ce qu’on ait gagné l’abri d’une crique sûre. Tenir à tout prix. Et cela va demander deux heures d’épuisante tension avec encore un louvoyage délicat dans la traîtrise de claques de vent imprévisibles… Mais lorsqu’on est enfin amarré  à un corps-mort, voiles amenées en vrac, on vit un instant sans pareil… On est fier d’avoir tenu le coup.»

Halten, durchhalten, um jeden Preis. Bis man in Sicherheit ist. Im Windschatten, in einem Unterstand, in einer Hütte, in einer Bucht. Das Boot endlich an einem Ankerplatz festgemacht, die Segel eingeholt. Oder, um ins Gebirge zurückzukehren: das Seil aufgerollt. Bergsteigen und Segeln, vertikal vs. horizontal, aber existenziell beides, potentiell lebensgefährlich ebenfalls. Durchhalten um jeden Preis. Den Pickel halten, die Pinne halten. Im Sturm am Berg. Im Sturm am Wasser. Wie am 22. Juli 1924, als der Joran, dieser tückische, manchmal orkanartige Fallwind vom Jura her, den Lac Léman aufwühlte. Aber die beiden Seglerinnen auf der Gipsy hielten durch, während andere Boote die Regatta aufgaben. Hermine de Saussure und Ella Maillart erhielten gar einen Spezialpreis des Cercle nautique de Genève, für „leurs qualités presque viriles“! Nun, Ella Maillart – von ihr stammt das Einstiegszitat – kannte sich mit gendersportlichen Fragen und Vergleichen bestens aus. Und segeln konnte sie auch, nicht nur auf dem Lac Léman, sondern auch auf der Seine bei Paris.

Ella Maillart (1903–1997) aus Genf ist vor allem als Reiseschriftstellerin bekannt. Aber sie war auch eine Sportlerin erstens Ranges. 1922 gründete sie den ersten Landhockey-Club für Frauen in der Westschweiz, als Skiläuferin war sie Mitglied der Schweizer  Nationalmannschaft. Das Segeln lernte sie in jugendlichen Jahren kennen, weil ihr Vater im Sommer jeweils ein Haus in Le Creux-de-Genthod bei Genf mietete. Dort freundete sie sich mit Hermine de Saussure (1901–1984) an, der Ur-Ur-Enkelin von Horace-Bénédict de Saussure, dem Drittbesteiger des Mont Blanc. Miette und Ella machten nicht nur die Tour du Lac auf verschiedenen Boot, sondern sorgten auch mit der Fahrt nach Korsika im Juni 1923 für Aufsehen, in nautischen Kreisen und überhaupt. Zwei so junge Frauen alleine auf einer Segeljacht im Mittelmeer, mon Dieu!

All das erfahren wir im neuen Bildband „Ella Maillart Navigatrice. Libre comme l’eau” von Carinne Bertola. Ein Werk für Seglerinnen. Bergsportler dürfen mitsegeln, auch wenn sie wohl nicht jeden Fachbegriff verstehen werden. Und sonst gibt‘s das Buch „Vagabundin des Meeres. Die Segel-Abenteuer einer Frau“, allerdings nur noch antiquarisch. In „Leben ohne Rast. Eine Frau fährt durch die Welt“ (1952) erzählt Ella Maillart ebenfalls, wie sie zum Segelsport gefunden hat. Dieses Buch ist vergriffen, aber die französische Ausgabe „Crosières et caravanes“ ist als Payot-Taschenbuch erhältlich, beispielweise in der Librairie Payot in Morges. Und dort ist noch bis zum 2. Juni die kleine, feine Ausstellung „Ella Maillart, navigatrice“ im Musée Bolle zu sehen. Die Teilnahme von Ella Maillart an den Olympischen Sommerspielen in Paris von 1924 ist selbstverständlich auch ein Thema; sie war die erste Frau, die ein Segelboot in einem olympischen Wettbewerb steuerte. Leider schied sie im Halbfinal aus und wurde neunte bei 17 Teilnehmern. „Ne pas participer aux finales me fut très dur“, schreibt sie in „Crosières et caravanes“. Die zweite Sommerolympiade von Paris – die erste fand im Jahr 1900 statt – startete am 4. Mai 1924 und dauerte bis zum 27. Juli. Kein Zufall, dass die dritte am 26. Juli 2024 beginnen wird.

Carinne Bertola: Ella Maillart Navigatrice. Libre comme l’eau. Édition Glénat, Grenoble 2024. € 36,00.
Ella Maillart: Vagabundin des Meeres. Die Segel-Abenteuer einer Frau. Edition Erdmann, 1991. Bei www.zvab.com

Ausstellung „Ella Maillart, navigatrice“ im Musée Bolle an der Rue Louis-de-Savoie 73-75 in der Altstadt von Morges. Offen Mittwoch bis Sonntag, 14 bis 17 Uhr. Noch bis 2. Juni 2024. https://museebolle.ch/expositions/ella-maillart-navigatrice/

Jahreszeitenkrimis

«Der April, der April, der macht, was er will.» Machen wir auch und lesen Krimis.

«Anfangs April meldete sich der Winter zurück, es fiel ein halber Meter Neuschnee. Unglaublich, dachte Kauz, als er die Fensterläden aufstiess. Es war ein Anblick wie im tiefsten Winter. So etwas hätte man sich an Weihnachten gewünscht. Aber da war der Schnee in den letzten Jahren oftmals ausgeblieben. Jetzt war er irgendwie fehl am Platz. Kauz ging mit Max ins Freie.»

So beginnt das Kapitel „Aprilwetter“. Kennen wir bestens, dieses Wetter. Gerade in diesem Jahr. Es soll den Romanfiguren nicht besser ergehen als uns selbst. Dabei sind wir doch vor ein paar Tagen im T-Shirt spazieren gegangen. Frühling eben. Wie warten wir jeweils darauf. Aber wie haben wir auf diesen ganz speziellen Frühling gewartet! Auf diesen, in dem Kauz mit Max unterwegs ist. Im Goms, dem obersten Abschnitt des Walliser Rhonetals. Kauz Walpen, der Üsserschwiizer Ex-Polizist mit Gommer Wurzeln, ermittelte erstmals im Sommer 2016 in seiner alten Heimat, im Jahr darauf tat er dies überraschenderweise im Winter. 2019 folgte, fast aprilwettermässig, der Herbst. Und nun endlich ist er da, der Kriminalroman „Gommer Frühling“ von Kaspar Wolfensberger.

Grün-schwarzer Umschlag, fünf Zentimeter dick, 533 Seiten. Ein dubioses Seniorenhaus mit dem Namen Primavera; ein Tauwetter, das am Dorfrand eine Leiche zutage fördert; ein Pfarrer, der plötzlich tot zusammenbricht; eine fromme Oberin, die nur so tut; überhaupt die katholische Kirche und ihre Fälle; die Tulipa grengiolensis. Nein, diese Tulpe, die nur beim Dorf Grengiols wächst, hat nichts mit der Aufklärung der Kriminalfälle zu tun. Aber so sind die Romane von Wolfensberger: breit gefächert, Tal- und Weltgeschichten, diesmal bis Afrika, zurück in die 1970er Jahre. Das Grand Hotel Gletsch und der Rhonegletscher spielen eine Rolle, Weisshorn und Galenstock stehen abwechselnd am Horizont. An dem lange düstere Wolken hängen, bis Kauz die wirklich verwickelten Fälle löst, mit Hilfe „seiner“ Leute. Wir kennen sie aus den drei andern Bänden, doch es sind neue, fein gezeichnete Personen hinzugekommen. Und Max findet eine Freundin – eine rote Katze. „Der Gommer Frühling ist immer für eine Überraschung gut, nicht wahr?“, fragt Kauz seinen Hund auf Seite 285.

«Im Winter kam die Sonne erst gegen Mittag über den Bergkamm, im Sommer deutlich früher. Wenn an Tagen wie an diesem Vormittag Ende Juni Nebel den Alpenkamm verhüllte, kam bei Rahel eine eigenartige Stimmung auf, als hätte bereits der Herbst begonnen.»

Rahel Reinhart ist neu bei der Polizei in Altdorf. Und schon muss sie ermitteln im Fall eines vermissten Managers, der als Leiche im Göscheneralpsee gefunden wird. Er war an einem umstrittenen Projekt für ein Luxus-Baumhotel am Urnersee beteiligt, und genau dort kommt es zu einem Brand. Martin Widmer zündelt in „Finsternis am Vierwaldstättersee“ gerne mit der Aktualität. Aber das konnte er nicht wissen, dass Investor Samih Sawiris, der ein sehr umstrittenes Bauprojekt auf der Halbinsel Isleten durchziehen will, Mitte April 2024 sechs mächtige Bäume fällen liess, die am Ufer des Urnersees auf seinem Land standen. Widmers siedelte seinen zweiten Krimi zum Vierwaldstättersee an sechs verschiedenen Schauplätzen an; der letzte ist das Hospiz San Gottardo. In diesem Kapitel fällt ein Satz (nicht Schuss…), den man aus der gebirgigen Kriminalliteratur bestens kennt: „Hatte sie ihm einen Stoß gegeben?“ Pat Hunger kann sich nicht erinnern, nimmt aber beim Weggehen vom Tatort noch den Sonnenhut des Opfers mit. Sommer also, wenn ein solcher Hut gebraucht wird.

«Bald mündete der Forstweg in einen steilen Wiesenhang, dessen Grün in mildes Sonnenlicht getaucht war. ‹Das war früher einmal alles Skipiste. Kannst dich noch erinnern, Bua?›, rief mein Vater nach hinten zu mir, worauf ich nur kurz atemlos nicken konnte, hatte er doch einige Wandergruppen überholen müssen und wir mit ihm. Es war mir jetzt so heiß geworden, dass ich sogar den Pullover auszog und im T-Shirt weiterging. Und das im Dezember!»

Im Winter, in München und im zuweilen doch verschneiten Gebirge ist Hauptkommissar Joe Bichelmair unterwegs. Wie schon in „Wenn er fällt, dann stirbt er“, lässt Marion Ambros ihren Helden in „Tote morden besser“ wieder ganz schön schwitzen – und frieren selbstverständlich ebenfalls. Ein verschwundener Star-Kletterer, eine bezaubernde Jasmin (dabei liebt Joe doch eigentlich seine Paula), die obligate Lawine und viel Münchner Mucke beleben diesen Alpenkrimi. Auf Skitour geht’s auch, denn der Sessellift ist nicht mehr in Betrieb, und den Schlepplift hat man schon vor Jahren abgebaut. Armer Joe, dabei hat er sich so auf diesen Ausflug mit Jasmin gefreut.

«Um fünf hatten Henrik und ich Wanderkleidung angezogen. Ich band meine blonden Haare zu einem festen Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in meine Turnschuhe. Die Stiefel hingen zusammengeknotet über dem Rucksack, den ich gleich darauf aufsetzte. Henrik tat es mir nach. Wir schlossen die Wohnung ab und gingen zum Hauptbahnhof. Das schöne Wetter hatte sich gehalten, die Luft war klar und warm.“

Anna freut sich ungemein auf das herbstliche Trekking, diesmal im Sarek, dem wilden Nationalpark im schwedischen Teil von Lappland. Mit dabei wie schon oft ihr Verlobter Henrik und ihre beste Freundin Milena sowie erstmals deren neuer Freund Jacob. Ob das gut kommt? Der Thriller „Der Ausflug. Nur einer kehrt zurück“ von Ulf Kvensler beginnt mit dem Funkverkehr zwischen einem Ambulanzhelikopter und einem Krankenhaus, zum Fund einer Frau, unterkühlt, mit Schnittwunden, gebrochenem Arm, aber auch Würgemalen am Hals. Was ist passiert? Und kehrte sie als einzige zurück? Das erfahren wir auf den nächsten 450 Seiten. Aber nicht linear, sondern mit geschickt eingesetzten Vor- und Rückblenden, so dass wir immer weniger auf sicherem Boden stehen. Hochspannend bis zum letzten Satz: „Am nächsten Tag fällt der erste Schnee.“

Kaspar Wolfensberger: Gommer Frühling. Bilgerverlag, Zürich 2024. Fr. 39.-
Martin Widmer: Finsternis am Vierwaldstättersee. Emons Verlag, Köln 2023. € 16,00.
Marion Ambros: Tote morden besser. Rother Verlag, München 2023. € 14,90.
Ulf Kvensler: Der Ausflug. Nur einer kehrt zurück. Penguin Verlag, München 2024. € 17,00.

Und noch ein Hinweis in eigener Sache. Für „alpinwelt“, das Bergmagazin für München & Oberland des Deutschen Alpenverein, verfasste ich den Beitrag Höhere Gewalt. Der Bergkrimi boomt. Das Heft 1/2024 mit dem Schwerpunkt „Tatort Berg. Über Bergkrimis und Kriminalität am Berg“ kann über diesen Link heruntergeladen werden: www.alpenverein-muenchen-oberland.de/alpinwelt