Es gibt Bilder, die man nie vergisst. Zum Beispiel das Foto von Paul Schafflützel, dem Toggenburger Bergsteiger, Erstbegeher der Tödi-Nordwestwand und des Ostgrats am ersten Kreuzberg.
Noch immer hängt in der Fridolinshütte das Bild von Paul Schafflützel, das mich als Junge so beeindruckte, als ich mit meinem Vater hier übernachtete. So lässig und furchtlos steht er am Fels, Blick nach oben zu fernen Gipfeln, eine Blume im Mund und das Hanfseil locker um die Hüfte. Eine Figur, ein Vorbild. Kühner Kletterer und Eisgänger, Erstbegeher des Ostgrats am ersten Kreuzberg und der Tödi Nordwestwand. Webermeister, Textiler also wie mein Vater, ein Arbeiterbergsteiger, oft allein unterwegs. Allein stürzte er in den Tod, im Oktober 1944 am Schafberg im Toggenburg, seiner Heimat.
«Aus dem Tödigebiet. Von grossen, seltenen Fahrten», sein hervorragend geschriebener Bericht über seine Touren im Tödigebiet, erschien erst posthum. Der Text liest sich so leicht und schnell wie sein Rhythmus des Kletterns gewesen sein muss.
Mehr in: Zopfi, Emil: Tödi, Sehnsucht und Traum. AS Verlag, Zürich 2000
Die Erstbesteigung der direkten Nordwestwand
«Ein wahrer Höllenschlund»
von Paul Schafflützel
Schang, der Hüttenwart auf der Planura, hatte uns zur Tür hinaus geleuchtet. Eigenartig lau war’s, es tropfte vom Hüttendach. Noch immer jagten schwarze Sturmwolken von Westen her, wie aufgescheuchte Gespenster zog bisweilen greller Mondschein über den bleichen Sandfirn. Doch das nächtliche Gewitter hatte sich verzogen, und es versprach ein guter Tag zu werden.
Als dunkler Drohfinger reckte sich der Felszahn des Kleinen Tödi in die blasse Dämmerung. Unserer frohen Zuversicht tat das keinen Abbruch, denn wir beide, Ernst Anderegg und ich, waren fest entschlossen, die «direkte» Tödi-Nordwand zu versuchen. Die Westwandpartien wunderten sich nicht wenig, als wir vom flachen Sattel hinter dem Kleintödi plötzlich links abbogen, zum Fuss der Wand hinüber. «Nur öppis luege!» beruhigten wir sie.
Weit offen klaffte der Bergschrund. Bald hatten wir den einzig möglichen Übergang entdeckt. Ein Neuschneerutsch hatte ihn gebildet. Schweigend trafen wir die Vorbereitungen. Ein letzter Blick in die Augen meines Kameraden. Dann machte ich mich gut gesichert im trügerischen Weichschnee der Randkluft zu schaffen. Fast übermütig frass der Pickel Griff und Tritt ins spröde Eis der Oberlippe, und dann war der Weg frei. Eine gute Seillänge noch reihte sich Kerbe an Kerbe hinauf zu den ersten schwarzen Felsen.
Wir trachteten, möglichst rasch nach links in die Gipfelfallinie zu gelangen. Leicht ansteigend querten wir auf exponierten Gesimsen, übermorschen Rippen und glasigen Rillen hinaus in die Wand. «Rechter Tödigerümpel», meint scherzhaft mein Gefährte. Neuschnee klebte in allen Ritzen, überall tropfte es, rann Schmelzwasser über faule Schieferfelsen. Eine Blankeisrinne, die vom flachen Gletscherboden hinaufstreicht zum Westgrat, zwang uns, die Steigeisen anzuziehen. Bange schauten wir manchmal hinauf zu den drohenden Gendarmen, denn ab und zu pfiff es an uns vorbei und trieb uns zu grösster Eile an.
Einige brüchige Rippen querend, erhielten wir Einblick in die riesige Wandeinbuchtung, die im steilen Aufbau 600 Meter hinaufschiesst zum Gipfel des Piz Russein. Was wir da erblickten, sah nicht verlockend aus! Das «untere Schneefeld» – steil wie ein Kirchendach – präsentierte sich als eine einzige, schwarzgraue Eisgurgel, die stundenlange, gefahrvolle Arbeit versprach. Wir hielten uns deshalb an die westliche Begrenzungsrippe und näherten uns rasch der mittleren, felsigen Wandzone. Mächtige, jäh aufstrebende Pfeiler bauen sich in geschlossener Wucht auf. Sie drängten uns hinein in die enge Felskehle, die allein den Zugang zum «obern Schneefeld» vermittelt.
Hier begann ein beharrliches Ringen. Abwärtsgeschichtet der Fels, vom Steinschlag rasiert, findet sich gerade das Notwendigste an Haltepunkten. Untätig baumelte der Hammer am Handgelenk, keine Ritze wollte einen schlanken Stift aufnehmen. Und dann jenes bange, nervenangreifende Gefühl, schutzlos den Gewalten des Berges ausgeliefert zu sein – welcher Bergsteiger kennt das nicht! Doch meistens ist es nichts «von Belang», ein paar Eiszapfen nur klirren der Tiefe zu. Wie froh waren wir, als endlich über der Kante das grosse obere Firnfeld auftauchte. Der Übergang jedoch sah fürchterlich aus! Auf steilem Plattenschild lag eine fingerdicke Eisglasur, die auch bei schonendster Behandlung mit hohlem Knall in Stücke sprang. Von zuverlässigem Sichern war da keine Rede mehr, jeder traute nur seinem Freund. Gab es denn in dieser Wand keinen harten, körnigen Firn, von dem wir gestern noch geträumt hatten, sondern nur graues, glasiges Eis? Den Versuch, allein mit den Steigeisen auszukommen, gaben wir bald auf. Tritt um Tritt musste sorgfältig geschlagen werden.
Und so «zimmerten» wir uns denn eine Himmelsleiter gipfelwärts. Ohne Hast, doch mit wachsender Besorgnis widmeten wir uns abwechselnd der aufreibenden Arbeit. – Denn weit hinaus war dunkel überschattet das weite Land, und drüben am Bocktschingel braute sich etwas Unheimliches zusammen. Schwarze Fetzen trieben über die Firnkante des Westgrats herein. Es dämmerte fast. Sicher lag jetzt Schang, der «Planuratiger», mit seinem Zeiss auf der Lauer. Beruhigt hackten wir weiter. Ein halbes Dutzend Seillängen reihte sich Tritt an Tritt, wie eine Perlenschnur. Etwas links haltend standen wir aufatmend unter dem letzten, felsigen Bollwerk auf abschüssiger Rampe beisammen. Ermunternd klopfte mein Kamerad mir auf die Schulter.
Doch bald trieb uns die Spannung weiter, hinein in die schaurige Gipfelschlucht. Ein wahrer Höllenschlund! Keuchend und kratzend, in unmöglicher Stellung in eisgepflasterten Rissen verkeilt, kämpften wir zäh und verbissen. Aus durchgekletterten Fingern sickerte das Blut; loses Zeug fuhr polternd in die Tiefe. Wir achteten es kaum, so angespannt war jede Faser.
Es war nachmittags drei Uhr, als Ernst die letzten Stufen hinausführte zur weissen, nebelumwobenen Spitze des Piz Russein. Gewitterschwer war die Luft. Unter der Gipfelwächte hielten wir nach elfstündigem Anstieg die erste, wohlverdiente Rast. Wir sprachen nicht viel. Ein Leuchten ist in den Augen, und im Herzen ist das frohe Bewusstsein, dass der König der Glarner Berge uns sein letztes Geheimnis enthüllt hat.
Aus: Die Alpen, 1946
Hallo Herr Zopfi,
die „Kein Wasser, kein Mond“ an der Schafbergwand startete lange Jahre rechts an der Gedenktafel für Paul Schafflützel vorbei. Die Gedenktafel lag später am Boden am Einstieg. Ich hatte dann schon vermutet, dass er an der Schafbergwand umgekommen sein muss. Ist Ihnen bekannt, unter welchen Umständen das passiert ist? Ich vermute, er ist während seilfreier Alleinbegehung der Schafbergkante abgestürzt…
Freundliche Grüsse
Rainer
Guten Tag Rainer
Danke für den Kommentar zu Paul Schafflützel. Er war allein am Schafberg, doch die Umstände seines Sturzes sind unbekannt. Für mein Tödibuch habe ich recherchiert, doch es war nur noch wenig zu finden über einen der damals stärksten Kletterer der Schweiz. Ich wusste nicht, dass es eine Gedenktafel gab. Haben Sie ein Foto?
Freundliche Grüsse
Emil Zopfi
Guten Tag, Herr Zopfi,
ein Foto der Gedenktafel für P. Schafflützel habe ich im August 2002 (das war das Jahr, als ich im Rahmen einer Reko-Tour aus Neugier den Einstieg der „Kein Wasser, kein Mond“ aufgesucht habe) leider nicht gemacht – ich hatte damals mit einiger Sicherheit nichtmal einen Fotoapparat dabei, sondern nur den Kletterführer; für mich als damals Sechzehnjährigen war das so ziemlich der aufregendste Tag meines bisherigen Lebens – stand ich doch „endlich“ unmittelbar am Wandfuss der geliebten Schafbergwand…
Spätere Touren in der Wand führten mich dann nur noch in den zentralen und östlichen Teil des Schafbergs. Als ich P. Schafflützels Gedenktafel 2002 antraf, lag diese schon am Boden, war also nicht mehr an der Wand befestigt. Nach Lage der Dinge scheint mir sicher, dass Paul Schafflützel am Tag seines Unfalls entweder a) die Schafbergkante kletterte, oder b) eine Neutour begehen wollte (wobei b) eher unwahrscheinlich ist, da er allein war, und der Bereich Westwand der Schafbergwand der steilste und schwierigste dort ist). Möglich wäre auch, dass er weiter östlich in der Wand verunglückt ist, und man die Gedenktafel dennoch am Westwandpfeiler installiert hat).
1944 war das… In den 1930ern wurde die Schafbergkante erstbegangen (genaues Datum unbekannt), in den 1940ern hatte es keine Erstbegehung; erst 1957 eröffneten Forrer und Neeracher die zweite Route der Wand, und zugleich erste im zentralen Wandteil. 1961 kam es zur Erstbegehung des Frospfeilers (Südwestpfeiler).
Als ich an besagtem Augusttag 2002 den Wandfuss von West nach Ost abschritt, fiel mir übrigens eine zweite Gedenktafel auf. Sie war unmittelbar am Wandfuss, oberhalb der markanten Zustiegs-Geröllrinne (mittlerer Wandteil) montiert, und erinnerte an einen (nach meiner Erinnerung) 1990 in der Schafbergwand tödlich abgestürzten Kletterer. Diese Tafel ist mir beim bisher letzten Besuch 2020 nicht mehr aufgefallen; vielleicht wurde sie an andere Stelle versetzt, oder wird noch ausgetauscht…
Ein dritter mir bekannter Todesfall in der Schafbergwand ist in Pit Schuberts „Sicherheit und Risiko in Fels und Eis“ dokumentiert: ein Kletterer stand am Standplatz, und wollte sich ins Seil lehnen. Sofort bemerkte er, dass das Sicherungsgerät nicht ins Seil eingehängt war. Es war zu spät: die Selbstsicherung war bereits ausgehängt. Reflexartig griff er ins Seil, bekam aber nur einen Strang zu fassen. Er ist über die 85-Grad-Steilplatten bis zum Wandfuss abgestürzt, mitsamt des Seiles. Als die Rettungskolonne am Unfallort eintraf, war er bereits tot.
Dieser Todesfall, der Tote aus 1990 (?) und Paul Schafflützel sind die drei mir bekannten Todesfälle an der Schafbergwand. Aller Wahrscheinlichkeit nach gab es einige wenige weitere Todesstürze dort.
An diese tödlichen Stürze denke ich hin und wieder auch, wenn ich die Wand betrachte. So ästhetisch und wunderschön sie ist, scheint in diesen Momenten nichts darauf hinzudeuten, dass genau dort einige Menschen die letzten Stunden ihres Lebens gelebt haben. Aufgebrochen voller Vorfreude auf einige tolle Stunden in phantastischem Fels, schlug das Schicksal dann härtestmöglich zu. Angesprochene Gedenktafeln halten die Erinnerung lebendig. Nie wird mir dieser Kontrast sonst so deutlich wie an der Schafbergwand – wohl, weil ich sie für die schönste Wand der Kalkalpen halte…
Einen schönen Sonntagabend… Mir hat Ihre schnelle Textantwort, Herr Zopfi, den Sonntag versüsst – bin ich doch ein grosser Freund und Liebhaber all Ihrer Bergliteratur.
Viele Grüsse
Rainer