Pimpers Paradise

Wieder mal Tessin, Sobrio, letzte Station der Strada Alta Leventina. Die ist inzwischen aus der Mode gefallen, nicht aber der eisenharte Gneis des Klettergebietes.

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Der Postautochauffeur ist hier auch Erzieher, er stoppt und greift ein, als ein Mädchen weint, das nicht den Sitz erhascht hat, den es sich wünscht. Die Strasse windet sich die Hänge hinauf, Kastanienwäder, Birken, Felsen. Das Dorf auf der Sonnenterrasse wirkt leer, kein Kaffee nirgends. Unten in Faido hatten wir noch Glück. Der Bahnhof ist zu einer Art Brockenhaus geworden, eine freundliche Dame macht uns einen Becher Kaffe, sie sammelt für die Kapuziner in Äthiopien. (Vielleicht müsste man ja auch für die Leventina sammeln …)
Der Nordföhn fegt kalt über die Hänge. Instinktsicher nehme ich den falschen Weg, folge den Markierungen der Strada Alta. Mein Körper erinnert sich wohl, dass ich die schon mal gegangen bin, vor Menschengedenken, brach einen Heuschober auf zum Übernachten, besuchte meinen alten Vater im Gambarogno. Irgendwann merke ich, dass wir zu hoch sind. Also zurück. Absteigen, die Karte in Händen. Dann die Felsen. Eisenharter Gneis, die Wand aus einem Guss, die Hakenabstände freundlich. Ein deutsches Paar klettert im überhängenden Sektor, wo der Fels glatt poliert scheint. Die Kinder spielen mit Steinen, Holzstücken, Blättern. Geschrei schrillt durch die Stille. Hier fehlt halt der pädagogische Postautochauffeur. Später dürfen die Kleinen ans Seil, dick vermummt, die Helme reichen ihnen über die Ohren. Es wird zu kalt für uns, als sich Wolken vor die Sonne schieben.
Übernachten im Bed and Breakfast der gastfreundlichen Norma Gasser-Graziani (www.norma-sobrio.ch). In Olten aufgewachsen, mit Tessiner Vater, habe sie ihren Ehemann in die Leventina mitgeschleppt. Wirtete zwanzig Jahre in Sobrio, bis er starb, eine Serviertochter anzustellen zahlte sich nicht mehr aus. Damals seien Heerscharen über die Strada Alta gezogen, hinauf und hinunter, ein gutes Auskommen. Ein dickes Hüttenbuch erzählt von begeisterten Besuchern aus aller Welt. Nach einigen Jahren Anstellung in Bellinzona versucht es Norma jetzt nochmals mit dem B+B, «da Norma». Ja, auch Kletterer übernachten gelegentlich. Sie verwöhnt uns mit Antipasto, Salami, Schinken, Lasagne, Wein, in Grappa eingelegte Trauben, Nocino und Lemoncino, alles hausgemacht. Das Frühstück stellt sie bereit, sie muss nach Rehalp zur Arbeit, Tags zuvor hatte sie einen Job im Mendrisiotto. Hinauf, hinab, in Amerika wären solche Distanzen ja ein Pappenstiel, sagt sie.
Noch immer fegt der kalte Nordföhn über die Terrasse, ein Rentner trotzt ihm mit dem Rasenmäher. Überhaupt fallen die vielen Rasenflächen vor den scheusslichen Weekenhäusern auf, da und dort flattert eine Fahne, alles eingezäunt. Mein Ferienhaus ist meine Burg.
Unten bei den Felsen ist es mild, geschützt vor dem kalten Wind. Ich kämpfe mich auch mal durch den glatt polierten Kanal von «Pimpers Paradise» hinauf. Die alte Verschneidungstechnik wieder mal hervorholen, weit spreizen, für die Finger nur ein Riss zum reinkrallen. Erinnerung an den Villigerpfeiler oder den Bockmattli-Westpfeiler. Mein Gott, sind die Haken weit oben. Aber das täuscht eigentlich, es fehlen ja nur noch ein paar Zentimeter, dann klippen. Der abschliessende Überhang und die Schlusswand erweisen sich wieder als freundlich. Der Fels ist warm. Zwei Zürcher Cracks tauchen auf, hängen sich ins Glatte.
Wir steigen ab nach Bodio, 700 oder 800 Meter auf einem steilen historischen Weg, oft mit sorgsam gefügten Treppenstufen, wohl vor Jahrhunderten in unendlicher Arbeit von den Bergbewohnern errichtet, bevor die meisten auswanderten. So ein Weg ist doch ein grandioses Kulturerbe, erzählt von der Mühsahl der Vorfahren – wenig beachtet halt leider. Aber immerhin gut markiert, da und dort auch mal ein Geländer. Tief unten die riesigen Hallen des Stahlwerks Monteforno – auch verlassen. Genauso der Bahnhof von Bodio. Da gibts nichtmal einen Flohmarkt oder Kiosk. Es ist eine melancholische Welt, diese Leventina, so kommt es uns vor. Statt dem Zug hält jetzt ein Postauto. Bei der Busstation in einer schrägen Bar, wo nur Männer ein und ausgehen oder herumsitzen, bekomme ich wenigstens zwei Gelati von einem Girl im Partylook, während das unvermeidliche Schosshündchen um meine Beine kläfft.

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