Der Tourismus im Grauen Kanton leidet, wie wir aus der Presse erfahren, die Hotelübernachtungen gehen dramatisch zurück (u.a. wegen den Russen), Zweitwohnungen sind out. Da kommt der Piz Buin gerade recht, der Sonnencremeberg mit seinem 150-Jahr-Jubiläum, leider halt im Schatten des Matterhorns und erst noch gut tausend Meter niedriger. Wer allerdings Nase und Ohren voll hat vom gegenwärtigen Matterhornoverkill, ist im Bündnerland als Berggast sicher hoch willkommen.
„Dann begann der Einstieg in das Piz-Buin-Geröll.
Da stand ein Regiment verlassener Rucksäcke, treulich von Eispickeln bewacht. Eine gröβere Gruppe am Seil mit zwei Führern hörten wir im Felsen laut werden, Steig- und Kletterkünste verratend und befolgend.
Wir aber stiegen selbständig und selbstverständlich über Geröll und Felsblöcke, durch kleine Kamine mit handlichen Griffen und dann schnauften wir tüchtig und dann waren wir oben.
Erlebnis: Dreitausenddreihundertundsechzehn Meter hoch standen wir im schnittigen Gegenwind, prusteten einmal, und schauten sonnverhaltenen Auges über die Welt.
Ja, über die Welt. Und die Welt bestand aus Bergen und reichte hinein bis zum Ortler, hinab zur Berninagruppe, hinaus über den Freschen und hinüber an die letzten Wälderberge.“
Stark, nicht wahr? Packend geschildert der Gipfelsturm, aber nicht pompös. Genau beobachtet und in Sprache gefasst. Neue Töne in der Bergliteratur. Sind es aber nicht, nur unbekannte. Der Text erschien 1936 in der Wochenbeilage „Feierabend“ des deutschnationalen „Vorarlberger Tagblatt“. Doch wenigstens dem hier ausgewählten Ausschnitt klebt keine völkische Alpinschreibe an, wie wir sie sonst kennen aus dieser Zeit. Und nicht mehr goutieren. Diesen modernen Text hingegen lesen wir gerne. Verfasst hat ihn Natalie Beer (1903-1987). Sein Titel „Kleines Erlebnis um den Piz Buin.“ Zu finden in „[3312] Piz Buin. Literarische Erkundungen 1865-2015.“ Herausgeber des klugen und schönen Lesebuchs ist Bernhard Tschofen, Professor am Institut für Sozialanthropologie, empirische Kulturwissenschaft und populäre Kulturen der Universität Zürich.
Einer der 23 Texte ist selbstverständlich die Schilderung der Erstbesteigung durch den St. Galler Johann Jakob Weilenmann, der auf www.bergliteratur.ch schon einige Auftritte hatte. Am 14. Juli 1865 stand er zusammen mit dem Wiener Kaufmann Joseph Anton Specht, dem Paznauner Bergführer, Gamsjäger, Schmuggler und Schafhirte Franz Pöll und dem aus dem Passeiertal stammenden Viehhändler Jakob Pfitscher auf dem Piz Buin, dem dritthöchsten Gipfel der Silvretta und dem höchsten Berg Vorarlbergs.
Über das Ländle hinaus berühmt wurde der Piz Buin allerdings nicht durch die Höhe noch durch seine Gestalt, sondern durch die Sonnenschutzcreme gleichen Namens, die 1946 auf den Markt kam. Das ist in „Mythos Piz Buin. Kulturgeschichte eines Berges“ nachzulesen. Der schweizerisch-österreichische Grenzberg ist also wie der weltberühmte schweizerisch-italienische Grenzberg, der ebenfalls am 14. Juli vor 150 Jahren erstmals bestiegen wurde, ein Markenhorn. Allerdings steht der Name, wie beispielweise auch beim Piz Bernina und seinen Nähmaschinen, direkt für ein Produkt, während das Matterhorn und vor allem seine unverwechselbare Form für alles herhalten darf und muss. Das zweite Buch zum Piz Buin zeigt den Berg von fast allen Seiten, befasst sich mit Geologie und Gletschern, Hütten und Sagen, Gipfelkreuz und Grenzverkehr. Etwas zu kurz und an zwei, drei Stellen mit etwas Geröll wird die alpingeschichtliche Karriere des Piz Buin Grond abgehandelt. Aber wo ist der Fels schon durchwegs fest in den Bergen Graubündens?
Und wenn auch! Zum Besteigen laden sie trotzdem ein, der Piz Bernina und all die Dreitausender im grössten Kanton der Schweiz. Seit ein paar Wochen tun sich das noch mehr. „Bündner Alpen“, der dritte Band der ausgezeichneten Hochtouren Topoführer von Daniel Silbernagel & Co., beschreibt mit Worten, Fotos, Zeichnungen und Karten höchst präzise und aktuell 66 Touren in Fels und Eis zwischen Val Maighels und Monte Disgrazia, schlägt 156 Alternativrouten und Varianten vor und stellt 24 Wandergipfel und Trekkings vor. Wer immer gipfelwärts vom Rheinwaldhorn zum Piz Buin unterwegs ist, braucht dieses Werk. Auf Seite 168 heisst es: „Betrachtet man von der Hüttenterrasse der Chamonna Tuoi die gleichmässige imposante Pyramide, so kommt Vorfreude auf die kommende Tour auf.“
Piz Buin, wir nehmen dich mit!
Michael Kasper (Hrsg.): Mythos Piz Buin. Kulturgeschichte eines Berges. Haymon Verlag, Innsbruck 2015, Euro 24.90.
Bernhard Tschofen (Hrsg.): [3312] Piz Buin. Rita Bertolini Verlag, Bregenz 2015, Euro 22.-
Michael Kropac, Daniel Silbernagel, Stefan Wullschleger: Bündner Alpen. Hochtouren Topoführer – 66 Touren in Fels und Eis zwischen Val Maighels und Monte Disgrazia. Topo Verlag 2015, CHF 58.- www.topoverlag.ch
Vom 15. Juli bis 6. August: Wanderausstellung „Mythos Piz Buin“ in Scuol; www.engadin.com