Pizol – Bilder im Wandel

Wer mit den eigenen Kindern Orte besucht, die man selbst mit Kinderaugen sah, der weiss, dass alle Veränderung auch Anfang ist. Wer seit Jahrzehnten in die Berge steigt sieht, oft voll Wehmut, wie überall die Gletscher schwinden. So hat jeder und jede seinen oder ihren Ort des Schmerzes und des Neuanfangs. Meiner liegt am Pizol.

War ich neun, zehn oder elf Jahre alt, als mich mein Grossvater mit auf die Fünf-Seen-Wanderung nahm? Ich weiss es nicht mehr. Sicher aber war es in jener Zeit, als ich schon in Karten von Bergen las, mir sehr genau ihre Höhen merkte und wusste, welche der hohen unter ihnen man auf einem Weg besteigen konnte. Um diese bat ich dann meinen Grossvater: «Können wir nicht einmal dort hinauf?».

Immer höher wollte ich, wie jedes heranwachsende Kind.

Auf der Wildseeluggen, wo  sich der Blick zum Pizol öffnet, hatten wir damals eine Pause gemacht. In meiner Bubenerinnerung umschlossen dunkle, zackige Felstürme einen Gletscher, der sich in weissen Mulden das Hochtal hinabsenkte, bis zu einem See, der uns zu Füssen lag. Seilschaften gingen über die Firnflächen auf die Höchste der Felszacken zu und neben uns machte sich eine Gruppe bereit. Ich sah Steigeisen, Pickel und Seil. Echte Bergsteiger waren es, bewundernd schaute ich zu ihnen auf. Zwischen ihnen und mir lag, wie eine unsichtbare Pforte, der Gletscher. Als wären sie Helden in einem Märchenland, schritten sie auf ihn, und über ihn höher hinaus.

Kinderaugen erscheint alles grösser. Der Pizol war für mich ein hochalpines Ziel, vielleicht für später einmal, wenn ich älter sein würde. In das Heranwachsen, das anderswo geschah, nahm ich ein Erinnerungsbild mit, das blieb. Als Jugendlicher, als Student ging ich Bergsteigen, auch richtig, mit Seil, Pickel und Steigeisen, und hatte den Pizol auch noch mit wallendem Gletscher und dunklen Felsspitzen im Hinterkopf als ich, Jahrzehnte später, zurückkehrte.

2019: Mit meinen beiden Buben, sie sind acht und zehn, planen wir eine Bergtour. Und da kommt mir der Pizol in den Sinn. Das alte Bild, erweitert um das Hörensagen. Gibt es dort nicht mittlerweile einen Steig um den Rest des Gletschers herum? Mit einigen Drahtseilen? Das fänden die beiden total spannend! Und ein neuer Höhenrekord wäre es bestimmt. Letzteres lässt sich rasch in Erfahrung bringen, ich muss sie nur fragen, sie wissen die Höhen aller Gipfel, die sie schon bestiegen haben, auf den Meter genau. Wir sind begeistert und der Plan ist gefasst.

An der Wildseeluggen spielen Wolkenreste um die Grauen Hörner. Der höchste Punkt ist der hinterste, der, an dessen Fuss der Hang, blaugrau, an einer Stelle blankes Eis zeigt.

„ Ist das der Gletscher?», fragen die Buben. Wie im Flug steigen wir über die Flächen, die mit runden Buckeln das Hochtal ansteigen und steinig, dabei rötlich, grünlich, braun, beige, gelb, grau und schwarz sind, jedenfalls alles andere als weiss, wie sie in meiner Erinnerung waren. Vor uns, über uns, zwischen den friedlich ziehenden Nebeln, steigen buntgekleidet Menschen durch die dunklen Felsen.

«Da gehen wir auch hinauf», jauchzen die Buben begeistert und klettern später voll Freude über blockige Felsstufen, hängen die Karabiner ihrer Bandschlingen in die Drahtseile, den Markierungen nach, um immer neue Ecken, zu immer nächsten Stufen.

Der neue Weg umgeht den alten Gletscher in weitem Bogen und es ist schon spät als wir den Gipfel erreichen. Um Sechzehn Uhr fährt die letzte Bahn. Ich rechne. Über den Firn des alten Gletschers wären wir schneller, auch wenn er oben recht steil ist für die weichen Kinderbergschuhe. Die beiden sind noch unsicher auf dem Firn, rutschen leicht und trauen sich nicht recht. Trotzdem biegen wir am Pizolsattel links ab und erreichen, kurz über steiles Geröll, den obersten Schnee. Hier hole ich die dreissig Meter Reepschnur, die ich für alle Fälle mitgenommen habe heraus und binde uns zur Gletscherseilschaft zusammen. Nicht unbedingt der Spalten wegen, die es wohl kaum noch hat, sondern, um die beiden von oben zu halten, sollten sie auf dem ungewohnt geneigten, ausgleitenden Grund ins Rutschen geraten. So gehen wir erst gerade, dann in einem Rechtsbogen um den ausgeaperten Teil herum, die wenigen hundert Meter das Gletscherchen hinab. Da ist es kein schmerzlicher sondern ein glücklicher Moment als ich, am Ende des Seiles gehend, die Seilschaft meiner liebsten Menschen vor mir sehe und mit ihnen zusammen den Pizolgletscher begeh, nun doch noch wie ein echter Bergsteiger.

Was werden die Kinder für Bilder mitnehmen? Sie, die den Pizol gleich besteigen konnten als sie ihn zum ersten Mal sahen? Was wird ihr Leben bringen? Welche Berge, welche Höhen im echten oder übertragenen Sinn? An einem Seelein vorbei, dass es in meiner Kindheit noch nicht gab, steigen wir hinab. Die Generationen, die aufeinander folgen, gemeinsam durch die Landschaft, die in stetem Wandel ist. Was für ein schöner Tag.

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