Bis zur Kette. Die Schlüsselzüge geschafft. Zwei Hänger obenaus. Ein hartes Jahr geht zu Ende.
Der Fels lebt. Und so hat jeder noch so felsenfeste Weg seine Geschichte, mit all ihren Höhen, Tiefen, Veränderungen. Einst, so erkläre ich meinem Kletterpartner, war der Zangengriff im Schlüsselzug griffiger. In einem harten Winter, vor fünf oder sechs Jahren, brach ein Stück der Kante weg. Nun hält er nur mit fein tariertem Gleichgewicht, während die rechte Hand untergreift zum Zweifingeruntergriff, bevor die Linke unendlich hoch oben das ganz versteckte Zweifingerloch findet. Hier sah ich mal, erkläre ich meinem Kollegen ein bisschen zugespitzt, einen Schweizermeister ganz schön schwimmen im on-sigth, obwohl die Schwierigkeit für ihn ein Spaziergang sein sollte. Aber es ist hier halt alles etwas verborgen und verrätselt, die Route müsste eigentlich Enigma heissen. Doch der Erstbegeher oder Einrichter, der längst in Thailand Kühe züchtet, wollte es anders. Durch all die kleinen Abbrüche und Ausbrüche von Griffen haben die zuständigen Locals inzwischen die Schwierigkeitsbewertung angehoben. Eine satte 7a.
Eine Route ist ein Mikrokosmos, eine winzige bedeutungslose Welt voller Wendungen und Wunder. Eine Art Kunstwerk – wir haben gar schon den Begriff Copyright bemüht. Es gibt ja die Meinung, Kunstwerke seien letztlich überflüssig angesichts der unendlichen Vielfalt und Schönheit der Natur. So überflüssig wie Klettern. Aber nun will ich nicht philosohpieren, sondern trotzdem klettern. Ich sage meinem Kollegen auch, der schon das Seil in den Grigri klippt, dass ich genau weiss, bei den Schlüsselzügen werde ich wieder schreien: dies ist nun definitiv das letzte Mal, dass ich mich hier hinaufquäle. Und es ist dann wirklich so, die Grenze zwischen Sturz und Weiterkommen hängt wiederum an einem Haar, bzw. an meinen Fingerspitzen an der Kante des lädierten Zangengriffs. Zudem ist es auch kalt, zu kalt für das Ding. Aber es ist die letzte Gelegenheit, die Prüfung zu bestehen. Ich klemme zwei Finger ins Loch und weiss: geschafft. Also jedenfalls die Schlüsselstelle. Und dann kommt mir beim folgenden Schrägzug das Seil in die Quere, gleitet genau über den Buckel, auf den ich meinen Fuss setzen muss. Die Fingerkraft schwindet. Und ich hänge. Also gut, wieder nicht rotpunkt geschafft. Da ich aber mein eigener Prüfungsexperte bei meinem selbst auferlegten Test bin, gestehe ich mir ein «provisorisch» zu. Ich darf es also nochmals versuchen. Irgendwann.
(Foto entwendet von Marco Volken.)
Enigma statt Pizzabuuch, das wäre wirklich ein schöner Name gewesen. Zu Nebula, Minja und Ikarus hätte er auch besser gepasst! Wünsche viel Erfolg beim nächsten Versuch. Gruss, Marcel