Sie sind besondere Orte, an denen sich hochalpine Geheimnistuereien abspielen können. Orte des Durchgangs, des Aufbruchs und der Rückkehr: die Berghütten.
«C’est une belle journée que celle de ce 23 août 1955 à la Charpoua. Sur la photo, quatre hommes qui rient autour d’une table, du pain, des victuailles, des bouteilles. Visiblement, on n’est pas dans la concentration d’une vieille de course, cela ressemble plutôt à la célébration d’un retour.»
Und was für eine Rückkehr gab es an diesem Dienstag im Refuge de la Charpoua (2841 m) hoch oberhalb des Mer de Glace und tief unterhalb der Aiguille du Petit Dru zu feiern! Der Italiener Walter Bonatti hatte seine sechstägige Odyssee durch die senkrechten Granitfluchten des Südwestpfeilers der Petit Dru vom 17. bis 22. August 1955 überstanden, mit teils halsbrecherischen Methoden wie Seilwurf. Eine Soloerstbegehung an einem mythischen Gipfel ob Chamonix, die selbst zum Mythos wurde. Seither galt der Bonatti-Pfeiler als Testpiece für Topkletterer, wie der Walker-Pfeiler an den Grandes Jorasses oder die Heckmair-Route durch die Eigernordwand. Nach dem grossen Bergsturz vom 18. September 1997 und weiteren in den Folgejahren sind mehrere Westwandrouten, einschließlich des Bonatti-Pfeilers, arg in Mitleidenschaft gezogen. Die klassische Westwandroute hatte Lucien Bérardini zusammen mit drei Mitkletterern in zwei Etappen vom 1. bis 5. und vom 17. bis 19. Juli 1952 eröffnet. Auf dem oben erwähnten Foto sitzt Lucien, genannt Lulu, links, lachend in einem gestreiftem Leibchen, eine Zigarette im Mundwinkel – mehr ein Fahrer zur See als einer am Berg; neben ihm sitzt Walter Bonatti, fröhlich lachend wie die gesamte Runde in diesem berühmten Refugium im Hochgebirge. Das legendäre Hüttenfoto schoss Gérard Géry für den „Paris Match“. Es ist gross abgebildet in „Une histoire des refuges de montagne“ von Hervé Bodeau.
Das sehr schön illustrierte Buch aus der Glénat-Reihe „Une histoire de…“ beginnt mit den ersten Übernachtungsgebäuden in den Alpen wie die Kloster, zum Beispiel auf dem Col du Grand Saint-Bernard, und setzt Balken auf Balken bis zum Alpine Shelter de Skuta in Slowenien, das einer Kapelle gleicht und wohl auch eine ist. Es gibt ja beides in einem Gebäude, wie das Oratorio e Rifugio di Sant’Anna am Monte Gambarogno im Tessin. „Il n’y a pas de montagne sans refuge“, behauptet Hervé Bodeau. Gibt es aber durchaus. In den kalifornischen Gebirgen zum Beispiel sind Hütten nur ganz vereinzelt zu finden, wenn überhaupt. Was es dafür nicht oder kaum gibt, sind Bücher ohne Fehler. „Une histoire des refuges“ macht keine Ausnahme. Die Chronik der Hütten am Matterhorn stimmt nur halb, der belgische König Leopold I. war (zum Glück) nicht der Vater von Albert I., dem Roi Alpiniste, sondern der Onkel, und Ötzi wurde nicht in der Nähe der Grenze Italien-Schweiz gefunden. Wir Schweizer warten immer noch auf den Schnidi; am Schnidejoch fand man Gegenstände von Leuten, die zur Steinzeit über diesen Pass im Wildhornmassiv vom Berner Oberland ins Wallis wanderten, aber bisher einfach noch keine Leiche…
Zur Wildhornhütte führt uns Heidi Schwaiger in „Erlebnis SAC-Hütten. Bergabenteuer für Familien“. Sie präsentiert 35 (Wochenend)-Touren aus den Alpen und dem Jura, clever geordnet nach diversen Erlebnissen wie Klettersteigen, Bergseebaden oder Mountainbiken. Die Wanderung zu Wildhorn- und Geltenhütte – beide gehören dem Schweizer Alpen-Club – wird unter Hüttentrekking gebucht. Zum Bivouac du Dolent-La Maya CAS (2667 m) geht es hingegen mit dem Abenteuer „Spartanisch“ in unbewarteten Hütten. Hat man eine solche für sich alleine, ist es eine tolle Erfahrung; wenn man sie schon voll belegt vorfindet oder wenn abends plötzlich noch eine durchnässte Vierergruppe auftaucht, ist es ebenfalls eine… Das Dolent-Biwak im schweizerischen Teil des Montblanc-Massivs liegt nur 8,8 km Luftlinie vom Refuge de la Charpoua entfernt.
Ähnlich nah liegen die Cabane de Saleinaz CAS und die Gîte de la Léchère; beide Unterkünfte sind im Val Ferret zu finden. Und in der 16. Auflage des beliebten „Berg-Beizli-Führer“ von Richi Spillmann mit insgesamt 1253 Petites auberges de montagne. 44 neue Ristoranti di montagna wurden aufgenommen: zwanzig aus Westschweiz, Wallis und Jura, elf aus Graubünden, acht aus dem Berner Oberland und der Zentralschweiz, drei aus der Ostschweiz sowie eines aus dem Tessin und ein neues Winterbeizli. In den Bergwirtschaften, die sich an Wanderwegen und abseits von Strassen und Bergstationen befinden, kann aber nicht nur eingekehrt, sondern oft auch übernachtet werden. All die nötigen Infos stehen selbstverständlich in Richis Bestseller. Das Refuge de Chalin unter den Dents du Midi ist nicht drin, aus dem einfachen Grund, da es eine Selbstversorgerhütte ist. Das Refuge de la Charpoua seinerseits ist in der kurzen Sommersaison bewartet; allerdings weist die 1904 eingeweihte und 2023 renovierte Hütte nur gerade 12 Plätze auf. Auf ihrer Website von 2022 heisst es: „Le refuge étant constitué d’une pièce unique, le savoir-vivre est indispensable.“ Gute Umgangsformen sind eigentlich für alle Hütten unerlässlich, am Vorabend einer Tour so gut wie danach. Aber sich freuen am Tisch eines Zufluchtsgebäudes in rauer Natur, nach einem überstandenen Abenteuer, das muss dann schon sein, mais oui!
Hervé Bordeau: Une histoire des refuges de montagne. Éditions Glénat, Grenoble 2024. € 25,95.
Heidi Schwaiger: Erlebnis SAC-Hütten. Bergabenteuer für Familien. Weber/SAC Verlag, Thun/Gwatt 2024. Fr 59.–, SAC-Mitgliederpreis Fr 49.–
Richi Spillmann: Berg-Beizli-Führer 2024-25. 1253 Bergrestaurants. Spillmann Verlag, Zürich 2024. Fr. 39.- www.bergbeizli.ch