Die dezentrale Ausstellung «Schau, wie der Gletscher schwindet» findet schweizweit vom 29. Juni bis zum 29. September 2024 statt. Auf der Reise zu 17 Orten kann eine Zeitschrift gelesen werden. Ein Buch zur Fotogeschichte der Gletscher ebenfalls.
j’ai voulu voir Aletsch et j’ai pas vu Aletsch
j’ai voulu voir Ferpècle et j’ai pas vu Ferpècle
j’ai voulu voir Arpette et j’ai pas vu Arpette
tout a fondu
tout est descendu
c’est foutu
Moiry c’est fini
Orny c’est fini
tout a fondu
tout est descendu
c’est foutu
que c’est triste Tschierva
que c’est triste Gébroulaz
tout a fondu
tout est descendu
c’est foutu
Beginn des Gedichtes «J’ai voulu voir Aletsch» der Westschweizer Dichterin Béatrice Monnard; sie lebt im Unterwallis oberhalb von Monthey. Das Gedicht findet sich in der Sommerausgabe der Vierteljahreszeitschrift «la couleur des jours». Sie widmet sich der über die ganze Schweiz verteilten Kunstausstellung «Schau, wie der Gletscher schwindet», die noch bis zum 29. September läuft. In zwei Faszikeln der Zeitschrift finden sich grossartige, oft unbekannte, ja teils ganz frische Prosatexte und Gedichte in Französisch, Deutsch, Italienisch und Bärndütsch zum Schwinden und Verschwinden der Gletscher, illustriert mit starken alten und neuen Ansichten des nicht so ewigen Eises in den Alpen.
Gestern war ich in der Ausstellung «Glaciers. Un monde en mouvement» im Musée historique Lausanne. Gletscher bedecken 3% der Gesamtfläche der Schweiz. Das mittelfristige Verschwinden der meisten von ihnen zeugt vom Gewicht des menschlichen Einflusses auf die Umwelt und von der Verletzlichkeit dieser Eiskolosse. Mithilfe von Installationen, Bild- und Tonaufnahmen sowie interaktiven Geräten stellt die Ausstellung den organischen Charakter dieser faszinierenden und sich ständig bewegenden Körper in den Mittelpunkt. Besonders eindrücklich fand ich die Videoinstallation der Walliserin Laurence Bonvin. Man sitzt in einem leeren, verdunkelten und warmen mittelalterlichen Saal, und vorne auf der Leinwand sieht man das Eis des grössten Alpengletschers schmelzen, wobei sich die Aufnahmen überlagern, mit den passenden Geräuschen dazu. Man ist sozusagen im Aletschgletscher drin, schaut und hört seinem Schmelzen zu; eigentlich wäre es ja kalt dort, aber man sitzt an der Wärme, weil es ja immer wärmer wird.
Unter dem Titel «Aletsch au féminin» widmet Claude Reichler der Fotografin und Filmerin Laurence Bonvin ein Kapitel in seinem neuen Buch «Les glaciers des Alpes et la photographie. Dans la lumière de leur disparition». Der Forscher, Schriftsteller und Honorarprofessor an der Universität Lausanne schlägt einen Bogen zwischen den alten Gemälden und Fotos, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Pracht der Alpengletscher verherrlichten, zu den Fotografien von heute, die im Zeitalter des Anthropozän, in dem die Gletscher verschwinden, aufgenommen wurden. Reichler zeigt, wie die Fotografen und Fotografinnen ganz unterschiedlich, aber immer so intensiv wie überzeugend, in ihren Werken der traurigen Wirklichkeit begegnen, die das Alpeneis zum Verschwinden bringt.
Andere Schaffende tun dies mit Worten. Wie eben Béatrice Monnard. Die Schlusszeilen ihres Gedichtes ««J’ai voulu voir Aletsch» lauten so; damit man die bittere Ironie sofort begreift – «clim» heisst Klimaanlage und «monter» hat hier nicht die Bedeutung von «hochsteigen», sondern von «hochfahren»:
chaud chaud
morte la Plaine Morte
mort le Morteratsch
sec le Pra Sec
je n’irai pas plus haut
je n’irai pas à Giétroz
je resterai en bas
je monterai la clim
et je sucerai des glaces à l’eau.
La couleur des jours. N° 51, été 2024: Écrire avec les glaciers; regarder le glacier s’en aller. Fr. 9.- Im Musée historique Lausanne lag die Zeitschrift zum Mitnehmen auf. www.lacouleurdesjours.ch
Claude Reichler: Les glaciers des Alpes et la photographie. Dans la lumière de leur disparition. Presses universitaires de Rennes, Rennes 2024. € 24,90.
Schau, wie der Gletscher schwindet: https://artforglaciers.ch/de/
J’ai voulu voir Aletsch: https://beatricemonnard.ch/
Aletschgletscher: https://laurencebonvin.com/aletsch-negative/