Regierungssturz

Dass Bundesräte stürzen ist selten, aber es kommt vor. Zuweilen auch, bevor sie im Amt sind – beim Klettern zum Beispiel.

Es war Silvester 1954, zwei junge Männer aus Dornach brachen auf, um die Felswand zu bezwingen, die über dem Dorf Gempen aus den Jurawäldern aufragt. Ein Griff bricht aus, der Führende stürzt zwanzig Meter ins Hanfseil, das er sich um den Bauch gebunden hat. Dem Sichernden schneidet das Seil eine tiefe Brandwunde in die Hand. «Ich dachte schon: Jetzt ist es aus und vorbei», erinnert sich der Führende später, sofern man beim Stürzen überhaupt denken kann. Von Aufgeben keine Spur: im Frühling kehren die beiden wieder und greifen erneut an. Zäh, eigenwillig und beharrlich, so kannte man ihn, den Arbeitersohn und späteren Bundesrat Otto Stich. Wäre er damals am Fuss der Belchenfluh zerschmettert am Boden liegen geblieben, hätte unser Land jetzt wohl ein noch viel grösseres Finanzloch zu stopfen, aber der Freund und das Seil und der Seilknoten – wahrscheinlich ein Spiren-Stich – hatten gehalten. Man hat dem pfeifenrauchenden Otti vieles nicht zugetraut im Leben, schon gar nicht dass er ein harter Jurakletterer war, ein Studierter mit Doktortitel, ein erfolgreicher Manager, ein National- und dann noch ein Bundesrat. Die SP-Genossen spuckten jedenfalls Galle, als er sich von den Bürgerlichen ins Amt wählen liess, statt der von den Parteioberen portierten Liliane Uchtenhagen. Selbst Max Frisch liess sich zu schnöden Worten hinreissen. Tempi passati. Heute ist man froh um den – nach eigener Einschätzung vermutlich – besten Schweizer Finanzminister aller Zeiten. Dies und die Klettertrouvaille findet sich übrigens in seiner Autobiografie mit dem einfachen Titel: «Ich war einfach einfach» (Verlag Johannes Petri). Man erfährt auch, dass er mit dem Amts- und Bergsteigerkollegen Adolf Ogi nicht viel am Hut hatte, weil der mit seinem Lötschbergbasis-Tick viel Geld aus Ottis Departement verlochte. Wir Kletterer sind dem Dölf allerdings dankbar für die schnelle Verbindung ins Wallis. Otti würde dazu vielleicht bemerken: Jurakalk ist schöner.

Interessant ist, dass auch Ottis Nachfolger im Finanzedpartement ein Kletterer war, sich bei einem weiten Sturz an der Vorderspitze in den Engelhörnern verletzte und darum das Klettern aufgab. Schade. Bei Kaspar Villiger denkt man darum doch eher an Stumpen, Fahrräder und UBS, als ans Bergsteigen. Ob das auch in seiner Autobiografie «Eine Willensnation muss wollen» vorkommt, weiss ich nicht. Ich erfuhr es von ihm persönlich anlässlich einer gemeinsamen Fernsehsendung, wo es um Kletterunfälle ging. Kurz zuvor war ich nämlich auch bös gestürzt – zum Bundesrat gereicht hat es mir doch nicht. Dafür klettere ich weiter.

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