Zwei neue alpinhistorische Werke von Reinhold Messner. Das eine schaut zurück, das andere zum Glück auch voraus.
„Er [Willy Merkl] gefällt sich hier in der Rolle eines Paschas, die er oben, wenn es hart auf hart geht, wahrscheinlich wird aufgeben müssen. … Ihr werdet Euch fragen, warum ich Euch das alles mitteile. Nun, weil ich das meinem Tagebuch nicht anvertrauen will. Man weiβ nie, wie Tagebücher in fremde Hände kommen. Balbos Tagebuch z.B. hat Merkl sofort an sich genommen. Andererseits erscheinen mir diese Dinge doch wichtig genug, festgehalten zu werden, falls einmal darüber gerechtet werden sollte, warum die Expedition nicht so abgelaufen ist, wie sie vielleicht wünschenswert gewesen wäre.“
Schrieb der Münchner Willo Welzenbach, einer der besten Alpinisten seiner Zeit, am 22. Juni 1934 seinen Eltern aus dem Basislager am Fusse des Nanga Parbat (8125 m), den er zusammen mit anderen Bergsteigern im Rahmen der Deutschen Himalaya-Expedition 1934 unter der Leitung von Willy Merkl erstbesteigen wollte. Am 10. Juli griff Welzenbach, Erstdurchsteiger zahlreicher Nordwände (so Dent d’Hérens, Gross Fiescherhorn, Grosshorn, Gletscherhorn. Lauterbrunnen Breithorn und Nesthorn), im Lager VII auf 7200 Metern zum letzten Mal zum Stift und kritzelte auf ein Blatt – Ausschnitte: „Wir liegen seit gestern hier, nachdem wir Uli im Abstieg verloren. Sind beide krank. Ein Versuch, nach 6 vorzudringen miβlang wegen allgemeiner Schwäche. […] Wir haben beide seit sechs Tagen nichts Warmes gegessen und fast nichts getrunken. Bitte helft uns bald hier in L. 7.“ Es gab keine Hilfe im tagelangen Höhensturm. Welzenbach starb in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli. Insgesamt blieben drei Deutsche und sechs Sherpas oben am Nanga Parbat zurück; zudem war am 8. Juni Alfred „Balbo“ Drexel an einem Lungenödem gestorben.
Nun hat Reinhold Messner – der Nanga Parbat war 1970 sein erster 8000er, und er ist auch so etwas wie sein Schicksalsberg, verlor Reinhold doch beim Abstieg seinen Bruder Günther – ein neues Werk über Willo Welzenbach veröffentlicht. „Der Eispapst. Die Akte Welzenbach“ ist eine Neuaufbereitung einer schon bekannten Geschichte über einen grossartigen Alpinisten, der zuletzt nicht nur am Berg den Kampf verlor, sondern schon vorher mehrmals gegen seinen Konkurrenten Paul Bauer, der als überzeugter Nationalsozialist im Hitler-Deutschland das bessere „Material“ besass. Messner zitiert ausführlich aus den Briefwechseln der Akteure, aus dem Tagebuch und den Tourenberichten von Welzenbach sowie aus anderen Quellen. „Es soll keine wissenschaftliche Arbeit sein, was ich daraus gemacht hae“, schreibt er im Nachsatz, „sondern eine Erzählung, die aus Dokumenten und Briefen schöpft, die zum Glück weiter existieren.“
Ganz ehrlich muss ich sagen, dass Messner schon besser erzählt hat. Denn das kann er. Aber seitenlang Briefe vorzulegen, die typographisch nicht vom Lauftext abgehoben sind, da kommt man beim Lesen so rasch vorwärts wie beim Spuren in knietiefem Schnee. Wer sich also einen besseren und wissenschaftlicheren Überblick über Willos Akte verschaffen will, folge diesen vier Publikationen: Franz Grassler: Dr. Willo Welzenbach. Zu seinem 60. Geburtstag, in: Jahrbuch des Deutschen Alpenvereins 1960; Peter Mierau: Die Deutsche Himalaja-Stiftung von 1936 bis 1998. Ihre Geschichte und ihre Expeditionen, Bergverlag Rother, 1999 (mit einem freundlichen Vorwort von Messner zu Paul Bauer); Peter Mierau: Nationalsozialistische Expeditionspolitik. Deutsche Asien-Expeditionen 1933–1945, Utz-Verlag, 2003. Sowie natürlich Eric Roberts: Willo Welzenbach. Eine biographische Studie mit ausgewählten Schriften, Carta Verlag, 1981.
Bei Roberts findet sich auf Seite 230 ein Foto der Erstdurchsteigung der Nesthorn-Nordwand am 25. Juli 1933 mit folgender Legende: „Alfred Drexel führt bei der Erstbesteigung der Nesthorn Nordwand.“ Was er auch tat, wie im beiliegenden Bericht von Erich Schulze zu lesen ist. Diesen Text hat Messner in seinem Buch aufgenommen, gekürzt und ohne die Kürzungen zu kennzeichnen. Auch das Foto findet sich, im Buch drin und auf der Rückseite des Umschlags, seitenverkehrt und mit dieser Legende: „Seilerster Welzenbach.“ Und hier die zum Foto passende Textpassage in der Gegenüberstellung, wobei die Zeitangabe für den Quergang und das Nichtwahrnehmen der Umgebung bei Schulze ein paar Zeilen weiter oben zu lesen sind. – Original Schulze: „Aber auch diese Minuten äußerster Konzentration gingen vorüber. Wir atmeten auf, als gegen 2 Uhr 30 Min. Drexel nach bewunderungswürdiger Führung die letzten Meter der plattigen, schon minder steilen Felszone überwand und die Firnhänge des Gipfelaufbaus erreichte. Wenige Schritte spurte er in dem bereits weicher werdenden Firn und konnte prachtvoll sichern. Nun erst erreichten ihn die ersten Sonnenstrahlen, die eine Belohnung für die Mühe und Anstrengung der vorübergehenden Stunden waren. In dem lichtüberstrahlten Firn warf seine Gestalt einen langen Schatten. Willo und ich kamen bald nach. Wir gönnten uns die erste Rast, aßen ein wenig.“ – Version Messner: „Minuten äußerster Konzentration sind vergangen, als Drexel die letzten Meter der weniger steilen Felszone und dann die Firnhänge des Gipfelaufbaus erreicht. Er kann endlich sichern, und uns wärmen die ersten Sonnenstrahlen! Für zwanzig Meter Höhenunterschied und fünfzig Meter Quergang nach rechts hat er fast drei Stunden gebraucht. Unser Interesse für die Umwelt ist dabei völlig verschwunden. [Neuer Absatz] Willo und ich gönnen uns die erste Rast, essen ein wenig von unserem Proviant.“ – Fazit der Neufassung: Sonnenstrahlen für Welzenbach und Schulze, obwohl sie noch im Schatten stehen, aber keine Brotzeit für Drexel…
Ein anderes, neues Buch von Reinhold Messner kann ich freilich bestens empfehlen. Es heisst „Mord am Unmöglichen. Spitzenkletterer aus aller Welt hinterfragen die Grenzen des Möglichen.“ Der Titel geht zurück auf einen wegweisenden Artikel von Messner in der Zeitschrift „Alpinismus“ im August 1968: „Direttissima – oder Mord am Unmöglichen.“ Darin forderte er den Verzicht auf technische Hilfsmittel beim Klettern. Im Buch kommt Messner auf diesen Artikel zurück und ergänzt ihn und die Geschichte, die er ausgelöst hat, mit eigenen und fremden Gedanken und Texten. Im zweiten Teil des von Luca Calvi und Alessandro Filippini herausgegebenen Buches kommen 42 Topalpinisten (38 Männer und vier Frauen) aus der ganzen Welt zu Wort, nehmen Stellung zum Unmöglichen bzw. Möglichen sowie zur Zukunft des Alpinismus und des Kletterns. Als leider sozusagen letzte Worte sind dabei auch drei Beiträge von Alpinisten, die seit der Publikation des Buches wie Willo Welzenbach in den Bergen geblieben sind. So von Hansjörg Auer, der am 16. April 2019 von einer Lawine in den Tod gerissen wurde. Ausschnitt aus seinem Beitrag: „Heutzutage sind viele Kletterer und Alpinisten nahezu ausschlieβlich von der Suche nach Schwierigkeiten getrieben. Das ist auch legitim und völlig normal bis zu einem bestimmten Alter. Bei mir war es genauso. Ich habe allerdings über die Jahre gelernt, dass es um etwas anderes geht. Zumindest für mich. Es ist nicht so wichtig, wo man klettert und was man klettert, sondern mit welchen Partnern man klettert und vor allem wie. Der Berg, das Gelände gibt den Weg vor, und wir müssen ihm folgen.“
Und mit diesen schönen Sätzen gehen wir über zum Feiern. Am 17. September wird Reinhold Messner 75 Jahre alt. Tanti auguri!
Reinhold Messner: Der Eispapst. Die Akte Welzenbach. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019, Fr. 38.-
Reinhold Messner: Mord am Unmöglichen. Spitzenkletterer aus aller Welt hinterfragen die Grenzen des Möglichen. Herausgegeben von Luca Calvi und Alessandro Filippini. Malik Verlag, München 2018, Fr. 38.-
Ich danke Daniel A. für den ideellen Anstoß zum Kauf des Buches, auch wenn ich einige Monate warten musste, bis es zu einem „menschlichen“ Preis zu erwerben war. Es ist ein Buch, aus dem man erfährt – im Gegensatz zu manch anderen Titel – dass sogar in Osteuropa so richtig gut geklettert wird! Insgesamt ist es sehr interessant zu lesen, was die Autoren zum Thema zu sagen haben, wie man aber auch am Thema vorbei denken und schreiben kann …
Da die „Alpinismus“ von einst noch in Reichweite vom Arbeitsplatz von heute stehen, ist mir das Pro und Contra von einst eine gute Ergänzung und Bereicherung zum Pro und Contra von heute. Beim Durchdenken oder Betrachten oder Bewerten der einen oder anderen dargelegten Haltung sollte man jedoch nicht vergessen, dass die Vermarktung überhaupt erst vielerlei Tun ermöglicht! –Bis hin zur ganz individuellen Entscheidung, wie man sich selbst daran beteiligt – oder auch nicht!
Summa summarum: Ein tolles lesenswertes Buch – aber lieber Verlag – das Fehlen eines Personenverzeichnisses, das halte ich für ein großes Manko! In anderen ähnlichen Büchern übrigens auch!